Tageblatt: Sie beschäftigen sich mit Sucht im Alter. Ist das ein verkanntes Problem?
Sacha Bachim: Ganz klar: Ja. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass Sucht und psychische Probleme bei älteren Menschen oft nicht wahrgenommen oder als „Altersprobleme“ abgetan werden. Das ist nicht nur ein gesellschaftliches, sondern auch ein Versorgungsproblem.
Warum ist das so?
Das ist nicht so einfach zu beantworten. Aber nach der Pandemie wurde sehr viel über die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen gesprochen und geforscht. Das ist gut und wichtig. Da liegt auch der Schwerpunkt der diesjährigen „Semaines de la santé mentale“. In der Jugend liegt die Zukunft einer Gesellschaft. Die Senioren gehen da eher unter, obwohl es Handlungsbedarf gibt.
Wir leben aber doch in alternden Gesellschaften – gerade hier in Europa …
Genau. Das ist umso mehr ein Grund, das zu ändern. Bis 2030 wird es weltweit mehr ältere Menschen geben als junge, wobei der Anstieg in den Entwicklungsländern am schnellsten voranschreitet. Das ist eine Aussage der UN zum Welttag der Senioren 2024.
Sind ältere Menschen anfälliger für Suchterkrankungen als jüngere?
Es gibt mehrere Faktoren, die das Risiko erhöhen, dass ältere Menschen unter Suchterkrankungen leiden. Das sind zum Beispiel Verlusterfahrungen, Isolierung, Autonomieverlust, Übergang ins Rentenalter und Medikamente, die Suchtpotenzial bergen oder zu Nebenwirkungen mit anderen Substanzen führen.
Sucht ist ein Zusammenspiel zwischen biologischen, sozialen und psychischen Elementen. Können Sie das erklären?
Früher hat man sehr eindimensional argumentiert. Entweder lag es in den Genen oder an sozialen Umständen. Heute weiß man, dass Suchterkrankungen ein Zusammenspiel sind zwischen biologischen Faktoren wie genetischen Veranlagungen, psychologischen Faktoren wie der Tatsache, wie Menschen mit Stress umgehen oder Veränderungen bewältigen, und sozialen Faktoren, zum Beispiel der Erziehung oder Einflüssen aus dem Umfeld.
Über welche Substanzen sprechen wir denn?
In der Gesamtbevölkerung ist Alkohol das am häufigsten konsumierte Suchtmittel. Bei den Senioren sind es hauptsächlich Medikamente, gefolgt von Alkohol.
Sie sprechen von einem „Netzwerk“ im Gehirn oder „Suchtgedächtnis“. Was bedeutet das?
Wenn der Körper sich an eine Substanz gewöhnt hat, brennt sich das im Gehirn ein. Man braucht immer mehr und das ist sehr langlebig. Selbst trockene Alkoholiker können nach Jahren wieder in eine Abhängigkeit geraten, weil das Suchtgedächtnis noch immer funktioniert – selbst bei einem Glas. Da spielen das Belohnungssystem im Gehirn, die Ausschüttung des Glückshormons und neuronale Schaltkreise eine Rolle.
Eine Studie von Eurostat aus 2019 zeigt: Im Alter der 55- bis 74-Jährigen liegt der Alkoholkonsum in Luxemburg deutlich über dem EU-Durchschnitt. Gibt es eine Erklärung dafür?
Es liegen alle Alterskategorien über dem EU-Durchschnitt. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. In Luxemburg ist Alkohol omnipräsent. Der Konsum wird nicht als etwas wahrgenommen, das es zu ändern gilt. Ganz anders etwa beim Rauchen. Feierabendbier, Ehrenwein … das sind nur ein paar Beispiele.
Wann wird Substanzkonsum denn zum Problem?
Wenn der Konsum ein Ausmaß angenommen hat, das eindeutig schädlich ist für den Körper. Risikolosen Alkoholkonsum, um bei dem Beispiel zu bleiben, gibt es nicht. Es gibt lediglich risikoarmen Konsum. Empfehlungen im Sinne von „ein Gläschen ist okay“ werden heute allerdings nicht mehr unterstützt. Auch die Weltgesundheitsorganisation gibt vor: Weniger Alkohol ist immer richtig und gar keiner das Beste.
Kommen wir zu den Medikamenten…
Es gibt Medikamente, die per se ein Suchtpotenzial bergen. Hinzu kommt, fast ein Drittel der Senioren nimmt gleichzeitig mehr als fünf Medikamente regelmäßig und täglich ein. Dabei fällt auf, dass manche gar nicht mehr wissen, wieso sie das eine oder andere eigentlich nehmen. Die Verschreibung wurde oft verlängert und nicht mehr überprüft.
Welche Medikamente bergen denn ein Suchtpotenzial?
Das sind hauptsächlich klassische Schlaf- und Beruhigungsmittel, die sogenannten Benzodiazepine und Z-Drugs. Diese Medikamente werden bei älteren Menschen sehr oft verschrieben – über lange Zeit. Die Ursachen für die Nervosität oder das schlechte Schlafen gehen dabei unter.
Also beispielsweise nicht erkannte Depressionen?
Wir wissen, dass psychische Erkrankungen auch bei älteren Menschen ein Thema sind. Depressionen kommen häufig in dem Alter vor. Dem entspricht auch, dass das Suizidrisiko bei der Alterskategorie der über 75-Jährigen am höchsten ist. Da wird wenig drüber gesprochen. Es wird eher mit Demenz in Zusammenhang gebracht, weil sich die Symptome von Depression und Demenz im Anfangsstadium
gleichen. Im „Plan national Santé mentale“ steht beispielsweise in Bezug auf Senioren nur etwas zu Demenzerkennung, während Depression im hohen Alter gar keine Erwähnung findet.
Sucht im Alter ist ja auch ein Tabu. Wie geht man denn am besten damit um, wenn man es beobachtet?
Suchtverhalten bei älteren sieht anders aus als bei jungen Menschen. Bei den Jüngeren ist es sehr oft exzessiv, viel auf einmal. Im höheren Alter ist es mehr über den Tag verteilt und weniger auffällig. Es ist wichtig, zu reagieren und es anzusprechen – auch wenn es zunächst nicht angenommen wird. Und der Hausarzt sollte auf jeden Fall informiert sein. Alkohol erhöht das Risiko für Stürze (vor allem in Kombination mit Medikamenten), Krebserkrankungen, Organschäden, kognitive Einschränkungen oder
sozialen Rückzug und Isolation.
Die Anzahl der Senioren wird zunehmen. Ist das Gesundheits- bzw. Pflegesystem darauf vorbereitet?
Es gibt immer mehr Altenund Pflegeheime, die neuerdings Psychologen einstellen. Die Einsicht, dass auch Senioren Ansprechpartner für psychische Probleme brauchen, wächst.
Trinken Sie heute ein Feierabendbier?
Ich trinke selbst auch gelegentlich Alkohol, hinterfrage den Konsum aber tatsächlich immer öfter. Wichtig finde ich, dass man gut informiert ist und eine bewusste Entscheidung trifft: Will ich heute ein Glas trinken oder nicht? Trinke ich aus Gewohnheit oder um enthemmter zu sein oder um zu entspannen? Oder
gibt es andere Wege, den angestrebten Zustand zu erreichen?
Senioren in Luxemburg
In den letzten zehn Jahren ist der Anteil der 60-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung auf 20,6 Prozent, Stand 1. Januar 2023, gestiegen. Das waren in absoluten Zahlen 136.374 Personen im Alter von 60 Jahren und älter, wie aus einer Statec-Publikation aus dem Jahr 2021 hervorgeht. Geografisch schwankt die Verteilung der Senioren stark. In Mondorf machen sie 32,5 Prozent an der Einwohnerschaft aus, in Fischbach nur 15,2 Prozent. Auch die Zahl der geschiedenen Senioren steigt. Nur 1,3 Prozent im Jahr 1981 stehen 12,6 Prozent im Jahr 2023 gegenüber, wie aus den Statec Regards 10/2023 hervorgeht.
Interessant ist ebenfalls, dass 11 der 36 Personen, die bei einem Verkehrsunfall ihr Leben verloren, 60 Jahre oder älter waren. Von den Fahrern im Alter von 60 Jahren oder älter, die in einen Verkehrsunfall verwickelt waren, standen 29 Prozent unter Alkoholeinfluss oder waren betrunken.
De Maart

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