Für die islamistischen Milizen war es offenbar ein Leichtes, Aleppo, das Handelszentrum des Landes, einzunehmen. Sie versetzten dem Staatschef damit einen schweren Schlag. „Assads Regime kämpfte von 2012 bis 2016 erbittert um die Rückeroberung der Hälfte der Stadt. Sie so schnell zu verlieren ist daher eine demütigende Niederlage und verdeutlicht die Fragilität des Regimes“, sagt Charles Lister von der Denkfabrik Middle East Institute in Washington.
Die Großoffensive der islamistischen Kämpfer kam für viele überraschend, aber die Schwachstellen von Assads Machtapparat sind schon lange bekannt. „Seit 2011 leidet die syrische Armee unter Personalmangel, schlechter Ausrüstung und sinkender Moral“, sagt David Rigoulet-Roze von der französischen Denkfabrik Iris. Um zu überleben, plünderten unterbezahlte Soldaten die Bestände des Militärs, viele junge Männer versuchten, sich dem Armeedienst zu entziehen, fügt Rigoulet-Roze hinzu. Am Mittwoch kündigte Assad an, den Sold der Berufssoldaten um die Hälfte zu erhöhen.
Während Damaskus weiterhin stark befestigt ist, habe die Armee ihre Kontrollposten rund um Aleppo aufgegeben, sagt Rigoulet-Roze. Als die Rebellen am Wochenende die Stadt erreichten, sei das Militär der Konfrontation aus dem Weg gegangen und habe große Mengen an Ausrüstung zurückgelassen, schreibt das Harmoon Center in Istanbul und deutet dies als Zeichen der Schwäche der Armee außerhalb der Hauptstadt.
Der irakische Wissenschaftler Aymenn al-Tamimi führt die Niederlage Assads in Aleppo auch auf die „Selbstgefälligkeit seitens der Regierung und ihrer Verbündeten“ zurück, „zum Teil geleitet von der Überzeugung, dass der Waffenstillstand von 2020 halten würde“.
Westliche Regierungen hatten den Syrien-Konflikt weitgehend abgeschrieben und sahen Assad als den Sieger des 2011 begonnen Bürgerkriegs. Jetzt müssen sie ihre Einschätzung möglicherweise revidieren. „Der Krieg, die Sanktionen und eine stagnierende Wirtschaft haben die Unterstützung des Regimes in der Bevölkerung untergraben, selbst bei denen, die 2011 noch hinter ihm standen“, sagt der Syrien-Experte Fabrice Balanche.
Vakuum in Zentralsyrien
„Drei Viertel der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze und die Unzufriedenheit in den verschiedenen Volksgruppen wächst“, erklärt Rigoulet-Roze. „Es besteht die Gefahr einer Destabilisierung oder sogar eines Staatsstreichs.“
Am Donnerstag drangen die islamistischen Kämpfer in die strategisch wichtige Stadt Hama ein. Die Regierungstruppen hatten dort am Mittwoch mit Unterstützung der russischen Luftwaffe versucht, die Stadt gegen die Milizen zu verteidigen. Doch auf den vollen Einsatz seiner Verbündeten in Moskau und Teheran kann Assad derzeit nicht zählen.
Russland konzentriert sich auf seinen Krieg gegen die Ukraine; der Iran und die von ihm unterstützte Hisbollah-Miliz im Libanon sind durch die Konfrontation mit Israel geschwächt. Zudem verfolgen Moskau und Teheran zwar gemeinsame Interessen in Syrien, misstrauen sich jedoch gegenseitig. Und ohne den Beistand der Verbündeten – auch am Boden – halten Experten eine Rückeroberung Aleppos für unmöglich.
In der syrischen Wüste lauert eine weitere Gefahr für Assad: die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS). Denn „die fähigsten Einheiten des syrischen Regimes, die in der zentralen Wüste gegen den IS stationiert waren, wurden alle abgezogen“, sagt der Politikwissenschaftler Lister. Dadurch sei ein „totales Vakuum“ in Zentralsyrien entstanden, das die Dschihadisten für sich nutzen könnten. (AFP)
De Maart
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