Die Rettung von Hunderttausenden Zivilisten aus der von Russland belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol ist erneut gescheitert. Auch am Sonntag gelang die Evakuierung nach Angaben des Kreml und des Roten Kreuzes nicht. Russlands Präsident Wladimir Putin machte bei einem Gespräch mit dem französischen Staatschef Emmanuel Macron die Ukraine verantwortlich, die sich nach seiner Darstellung nicht an die vereinbarte Feuerpause halte. Das Rote Kreuz sprach von einem „Fehlen einer detaillierten und funktionierenden Übereinkunft zwischen den Konfliktparteien“.
Die Menschen in Mariupol lebten in Schrecken und suchten verzweifelt nach Sicherheit, schrieb das Rote Kreuz auf Twitter. In der südukrainischen Stadt sitzen die Menschen nach ukrainischer Darstellung schon seit Tagen ohne Strom und Heizung, es soll viele Tote und Tausende Verletzte geben. Mehr als eine Woche nach Kriegsbeginn hatten Russland und die Ukraine am Samstag eine zeitweilige Waffenruhe für die Hafenstadt und eine Kleinstadt in der Umgebung vereinbart, um Menschen fliehen zu lassen – die Feuerpause wurde gebrochen, eine Evakuierung scheiterte nun bereits zum zweiten Mal.
Mariupols Bürgermeister Wadym Boitschenko sprach danach im ukrainischen Fernsehen von einer „humanitären Blockade“ durch russische Einheiten. Er flehe um die Errichtung eines Korridors, um Ältere, Frauen und Kinder aus der Stadt mit rund 440.000 Einwohnern zu bringen.
Nach mehr als einer Woche Krieg fliehen immer mehr Ukrainer aus ihrer Heimat – vor allem in EU-Länder. Nach aktuellen Schätzungen der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR sind bereits mehr als 1,5 Millionen vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine geflohen. „Dies ist nun die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg“, teilte das UNHCR am Sonntag auf Twitter mit. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar sind allein in Polen bis Samstag 922.400 Geflüchtete registriert worden. Der polnische Grenzschutz ging davon aus, dass ihre Zahl im Laufe des Sonntags auf über eine Million steigt. Rumänien verzeichnete rund 227.500 Geflüchtete und Ungarn über 163.000. Fast 114.000 Menschen haben die Slowakei erreicht.
Moldawiens Präsidentin Maia Sandu bat bei einem Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken in Chisinau die internationale Gemeinschaft um Hilfe bei der Versorgung der Flüchtlinge. Seit Beginn des Krieges seien über 250.000 Menschen aus der Ukraine über die Grenze gekommen. Die frühere Sowjetrepublik zählt selbst nur etwa 2,6 Millionen Einwohner.
Militärischer Druck auf Kiew
Der Generalstab in Kiew sieht den Hauptfokus der russischen Angreifer neben Mariupol weiter in der Umzingelung der Hauptstadt Kiew, der Millionenmetropole Charkiw im Osten und der Stadt Mykolajiw im Süden. Russische Einheiten versuchten, in die südwestlichen Außenbezirke von Kiew einzudringen, und näherten sich der Autobahn nach Boryspil, wo Kiews internationaler Flughafen liegt. Russland plane zudem die Einnahme des Wasserkraftwerks Kaniw rund 150 Kilometer südlich von Kiew am Fluss Dnipro und habe einen Flughafen im westukrainischen Gebiet Winnyzja zerstört.
In Moskau meldete das Verteidigungsministerium den Vormarsch der russischen Armee und der von ihr unterstützten Separatisten im Osten der Ukraine. Russische Streitkräfte und prorussische Separatisten brachten demnach mehr als ein Dutzend Ortschaften unter ihre Kontrolle. Zugleich meldete die russische Seite ukrainische Angriffe auf die selbst erklärten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk und kündigte Angriffe auf die ukrainische Waffenindustrie an.
Die Angaben beider Seiten können nicht unabhängig überprüft werden. Delegationen aus der Ukraine und Russland bereiten sich unterdessen auf eine dritte Verhandlungsrunde vor. Zuletzt hieß es, dass diese an diesem Montag beginnen könne. Nach UN-Angaben wurden in dem Krieg bislang mindestens 364 Zivilisten getötet – darunter 41 Kinder. Nach amerikanischen Angaben sterben pro Tag zudem hunderte russische Soldaten. US-Zahlen zu ukrainischen Verlusten gab es nicht.
Der ukrainische Präsident Selenskyj forderte seine Landsleute in einer neuen Videobotschaft zum Widerstand gegen die russischen Truppen auf. „Wir müssen nach draußen gehen! Wir müssen kämpfen! Wann immer sich eine Gelegenheit bietet.“ Der russische Präsident Wladimir Putin hatte als eines der Ziele der am 24. Februar begonnenen Invasion genannt, die Gebiete Donezk und Luhansk vollständig einzunehmen.
Diplomatische Versuche
Neben Frankreichs Präsident Macron versuchte auch der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan bei einem Telefonat auf Kreml-Chef Putin einzuwirken. Erdogan erneuerte dem Präsidialbüro in Ankara zufolge seine Forderung nach einer Waffenruhe und bot sich als Vermittler an. Internationale Vermittlungsversuche scheinen in dem Krieg derzeit wenig zu fruchten. Israels Ministerpräsident Naftali Bennett war am Samstag zu einem Gespräch mit Putin in Moskau und anschließend beim deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin. Danach erklärte der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit aber nur, das gemeinsame Ziel bleibe es, den Krieg in der Ukraine „so schnell wie irgend möglich“ zu beenden. Bennett sprach am Sonntag erneut mit Putin, diesmal jedoch telefonisch.
In Russland hatte der inhaftierte Kreml-Gegner Alexej Nawalny zu Protesten aufgerufen. Nach Angaben der Staatsagentur Tass wurden bei Demonstrationen im Land rund 3.500 Menschen festgenommen. In mehreren russischen Städten hätten am Sonntag bis zum späten Nachmittag rund 5.200 Menschen an nicht genehmigten Kundgebungen teilgenommen, meldete Tass unter Berufung auf das Innenministerium.
Immer weniger Medien in Moskau
Blinken brachte neue Strafmaßnahmen gegen Moskau ins Spiel: Washington berate mit europäischen Verbündeten über einen möglichen Importstopp für Öl aus Russland. „Wir sprechen jetzt mit unseren europäischen Partnern und Verbündeten, um auf koordinierte Weise die Aussicht auf ein Verbot der Einfuhr von russischem Öl zu prüfen“, sagte Blinken dem Sender CNN am Sonntag. Die Debatte gehe auch darum, sicherzustellen, „dass auf den Weltmärkten weiterhin ein angemessenes Angebot an Öl besteht.
Nach einer Gesetzesänderung, die das russische Parlament am Freitag verabschiedet hatte, setzen mehrere internationale Medien die Berichterstattung aus ihren Moskauer Studios vorerst aus. Mit der Gesetzesänderung kann die Verbreitung angeblicher Falschinformationen über die russischen Streitkräfte mit hohen Geldstrafen und bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden. Die öffentlich-rechtlichen Sender aus Deutschland wollen von anderen Standorten aus weiterarbeiten. (dpa)
Tausende nach Antikriegs-Protesten in Russland festgenommen
Neben den weltweiten Protesten sind auch in Russland Tausende Menschen gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße gegangen. Mehr als 3.500 von ihnen wurden festgenommen, bestätigte das russische Innenministerium gestern ähnliche Berichte der Beobachter-Gruppe OVD. Dem Ministerium zufolge waren es 1.700 in Moskau, 750 in St. Petersburg und über 1.000 in anderen Städten. Insgesamt hätten an den Protesten 5.200 Menschen teilgenommen. OVD-Info sprach von Kundgebungen und Festnahmen in rund 50 Städten. In Videos in sozialen Medien waren Demonstranten zu sehen, die „Nein zum Krieg“ und „Schande“ riefen. Dutzende Menschen in der Stadt Jekaterinburg am Ural wurden gezeigt, als sie abgeführt wurden. Einer wurde auf den Bildern von der Polizei zu Boden geschlagen. Ein Wandgemälde war zu sehen, auf dem das Gesicht von Präsident Wladimir Putin fehlte. Maria Kusnezowa von OVD sagte, die Schrauben würden wie im Kriegsrecht maximal angezogen. Dennoch wehrten sich die Menschen. „Wir sehen heute ziemlich große Proteste, selbst in Sibirien, wo man selten solche hohen Zahlen von Festgenommenen sieht.“
In Russland drohen Menschen, die offen Kritik an der Militärintervention in der Ukraine üben, laut einem am Freitag verabschiedeten Gesetz drakonische Strafen von bis zu 15 Jahren Haft. Seit dem 24. Februar wurden laut OVD-Info knapp 11.000 Demonstranten festgenommen. (Reuters/AFP)
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