Wohlstand für alle

Wohlstand für alle
(Alain Rischard/editpress)

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Es geht uns weiterhin gut, wenn es den Nachbarn gut geht

Die dramatischen Ereignisse am Dienstag in Brüssel haben unsere politische Tagesaktualität in den Hintergrund gerückt. Die Anschläge und ihre eigentlichen Ursachen im Nahen und Mittleren Osten, die Verwerfungen dortselbst lassen die angeblichen Sorgen, mit denen sich in Luxemburg on- und offline wortgewaltig herumgeschlagen wird, als primitiv und lächerlich erscheinen, eine bierernste Beschäftigung damit sogar als beschämend. Stichwort Radare oder vor nicht allzu langer Zeit noch das Rauchverbot in den Cafés.

Dabei ziehen diese Luxusprobleme einer Wohlstandsgesellschaft – diejenigen, denen es nicht so gut geht, schweigen meist – Energie und Zeit zur Bewältigung der eigentlichen Übel unserer Gesellschaft ab, solcher, kaum sichtbarer Krankheiten, die den Zusammenhalt und das Zusammenleben im Lande stärker gefährden, als es die zwei Dutzend Radare oder die Frage, ob die reichen Kirchenfabriken mit den armen teilen müssen, jemals tun könnten.
Grundlegende Probleme, die nicht entlang religiöser Grenzen verlaufen oder an der ethnischen Zugehörigkeit des Einzelnen festzumachen sind. Gemeint sind Fragen wie die soziale Ungerechtigkeit in Luxemburg, aber auch allgemein in der Europäischen Union, die Hürden, die den Einzelnen trotz größter Anstrengung daran hindern, die soziale Leiter zu erklimmen, weil der sogenannte „ascenseur social“ festgefahren ist.

Die Beschäftigung mit diesen Themen ist mühsam und störend. Sie rüttelt an grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft und ihres Wirtschaftssystems, etwa die der ungleichen Verteilung des Reichtums, den unsere Gesellschaft produziert. Vor diesem Hintergrund muss in den kommenden Wochen die Diskussion über die vorliegenden Vorschläge der Regierung zur Steuerreform geführt werden: Inwiefern tragen sie dazu bei, das soziale Gefälle in der Gesellschaft zu reduzieren?

Die Beantwortung dieser Frage wäre theoretisch eine einfache: Den einen nehmen, um den anderen zu geben, den materiellen Reichtum gemäß dem Osmose-Prinzip fließen lassen, bis das Gleichgewicht erzielt ist. Doch so einfach darf die Debatte nicht sein. Denn allein auf nationaler Ebene kann dieses Grundproblem unserer Gesellschaft nicht gelöst werden. Allzu stark ist das Land international verflechtet, gehört der Reichtum, für den Luxemburg europaweit beneidet wird, nicht jenen paar Hunderttausend, die unsere 2.586 Quadratkilometer besiedeln. Eine objektive Debatte über die Steuerreform muss also auch vor diesem Hintergrund geführt werden. Was ist innerhalb des engen politischen Rahmens Luxemburgs möglich? Wie weit kann eine Steuerpolitik genutzt werden, um soziales Ungleichgewicht zu mildern, ohne das System grundlegend zu bedrohen, auf dem der Wohlstand des Landes basiert? In anderen Worten, ohne alle jene kapitalkräftige Kreise zu verschrecken, die ihre Mittel in Luxemburg bunkern bzw. zur Vermehrung in Investmentfonds und anderen Produkten angelegt haben.

Soziale und materielle Gerechtigkeit kann und sollte auch nicht allein in einem Land geschaffen werden. Und damit kommen wir auf die Gründe zurück, die maßgeblich zu den fürchterlichen Anschlägen am Dienstag in Brüssel, zuvor im Januar und November 2015 in Paris und fast täglich in Ländern wie Irak, Jemen oder Mali führ(t)en: die wirtschaftliche Ungerechtigkeit, die Chancenlosigkeit ganzer Bevölkerungsteile, die keinen anderen Ausweg erkennen als den religiösen Fanatismus und dabei schulisch und beruflich gescheiterte junge Menschen und Kleinkriminelle aus Europa in diesen Strudel der Gewalt hineinziehen.
Noch nie war das Gedeihen der europäischen Gesellschaften so eng an jenes unserer Nachbarn im Nahen bzw. Mittleren Osten und auf der anderen Seite des Mittelmeers geknüpft wie heute.

lmontebrusco@tageblatt.lu