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Quellenschutz 2.0

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Schwarz-Weiß-Bilder von Bagdad. Aufgenommen aus einem Helikopter des US-Militärs. Man hört Stimmen der Bordbesatzung, dann Schüsse. Eine Gruppe Menschen rennt auseinander, einige werden getroffen und bleiben liegen. „Keep shooting“.

Die Bilder stammen nicht etwa aus einem Hollywood-Film oder einem PC-Spiel, sondern zeigen ein Stück Kriegsrealität. Gefilmt am 12. Juli 2007. US-Soldaten erschießen aus der Luft ein Dutzend Menschen, darunter zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters. Die Bordkamera lief mit. Das Video sollte nie an die Öffentlichkeit gelangen. Selbst Reuters, eine Aufklärungdes Tathergangs fordernd, bekam es nicht frei. Seit dem 5. April 2010 jedoch kann jeder es sich anschauen. Im Internet, auf wikileaks.org.

Die Aufregung ist groß, selbst das Weiße Haus sah sich am Sonntag gezwungen, auf das Gefilmte zu reagieren.Denn zusätzlich zur Grausamkeit des Krieges zeigt das Video auch, nach welchen Regeln heute Öffentlichkeit funktioniert.

Die Internet-Plattform Wikileaks (leak: „undichte Stelle“) hat seit ihrer Gründung im Jahr 2006 über eine Million geheimer Dokumente ins Netz gestellt: Die Mitgliederliste der britischen Rechtspartei BNP zum Beispiel. Oder die Handbücher von Guantanamo. Auch die größte, öffentlich zugängliche Sammlung über Scientology findet sich dort. Renommierte Zeitungen wie die New York Times oder der Guardian berufen sich in ihren Enthüllungsgeschichten immer häufiger auch auf Wikileaks.

Geheimnisverräter

Die Macher der Seite verstehen sich selbst als Geheimnisverräter im Namen der Informationsfreiheit. Doch selbst der US-Geheimdienst fühlt sich bedroht. Er hat vom Counterintelligence Center einen Bericht anfertigen lassen, in dem Strategien gegen die Internetseite entworfen werden. Selbstverständlich galt das Dokument als „top secret“. Es wurde dennoch veröffentlicht: auf Wikileaks. Zugespielt aus einer geheimen Quelle, denn Wikileaks sichert seinen Informanten absolute Anonymität zu.Die hochgeladenen Daten werden nach militärischen Standards verschlüsselt und dann über verschiedene Server weltweit geleitet, so dass Informationen nicht zurückverfolgt werden können. Alle Bemühungen, die Quellen zu enttarnen, blieben bislang erfolglos. Die Seite gilt als unzensierbar.

Wikileaks trägt sicher zu mehr Transparenz bei und führt durch seine Unkontrollierbarkeit auch dazu, dass die Mächtigen ins Schwitzen geraten. Der radikale Schutz ihrer Informanten ist nur konsequent, denn Quellenschutz ist eine wesentliche Voraussetzung der Pressefreiheit. Doch während ein Informant sonst einem Journalisten seiner Wahl vertraute, werden die Informationen durch Wikileaks der weltweiten Öffentlichkeit direkt zugänglich gemacht. Dabei kann die Grenze zwischen öffentlichem Interesse und dem Schutz der Privatsphäre leicht überschritten werden. So wurden beispielsweise auch private E-Mails von Sarah Palin auf Wikileaks veröffentlicht. Aber hat die Öffentlichkeit wirklich ein Recht darauf, zu erfahren, wie diese, zu Recht umstrittene Politikerin ihrer Tochter „Gute Nacht“ wünscht?

Ohne redaktionelle und berufsethische Kontrolle können Veröffentlichungen ihren Zweck verfehlen. Nicht ohne Grund regelt der luxemburgische Pressekodex etwa die Informationsbeschaffung und den Respekt der Persönlichkeitsrechte. Pressefreiheit bedeutet auch Verantwortung. Wikileaks veröffentlicht interessantes Rohmaterial und schützt seine Informanten. Doch der Mehrwert durch die Arbeit eines Journalisten fehlt. Leser sollten sich darauf verlassen können, dass das, was sie in den Medien erfahren, unabhängig bewertet wurde. Zugleich müssen sie sicher sein, dass sie sich auch gegen unlautere Darstellungen wehren können.
Doch auch für die klassischen Medien gilt weiterhin, und heute vielleicht umso mehr: Niemand sollte Journalisten zur Preisgabe ihrer Quellen drängen können. Das Recht auf Quellenschutz ist eine grundlegende Voraussetzung für eine funktionsfähige Demokratie.

 

Janina Strötgen
[email protected]