Freitag24. Oktober 2025

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Perverse Strukturen

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Generalvikar Mathias Schiltz empörte sich am Ostersonntag in der Kathedrale über eine angebliche Hetzkampagne gegen die Kirche in Sachen Kindesmissbrauch. Ganz so, als ob es falsch wäre, Verbrechen zu verurteilen. Dass die Kirche sich wehrt, ist durchaus verständlich, da die aktuelle Krise an den Grundlagen ihrer Macht – Glauben und Vertrauen – rüttelt. Aus diesem Grund ist die aktuelle Krise für die Kirche besonders schlimm, denn sie weiß, wie schwierig es ist, erschüttertes Vertrauen wiederherzustellen.

Schuldlos als Institution ist sie allerdings nicht. Kindesmissbrauch ist zwar eine individuelle Tat, aber schuld daran sind nicht nur die Täter. Die Kirche wie auch die Gesellschaft insgesamt tragen sehr wohl ihren Teil der Schuld, denn nicht nur der Missbrauch an sich ist ein Verbrechen, sondern auch seine Vertuschung.

Die Tabuisierung dieses Themas bewirkte in vielen Ländern quasi eine soziale Duldung des Missbrauchs. Eine jahrzehntelange Vertuschung in dem Ausmaße, wie dies weltweit der Fall war, wäre der Kirche ohne die gesellschaftliche Rückendeckung nicht möglich gewesen.
Offiziell wird Kindesmissbrauch bestraft, trifft es jedoch einen Familienangehörigen, so wird oft aus Scham geschwiegen. Schlimmer noch, derjenige, der das Verbrechen anprangerte, wurde geächtet (s. Artikel „Späte Erinnerung“, Land 2.4.2010). Durch die langjährige Tabuisierung des sexuellen Missbrauchs wurde das Wohl der Betroffenen hintangestellt. Der Glaube an die moralische Autorität der Kirche – nicht an Gott ! – war der Gesellschaft in den meisten Fällen wichtiger als das Bestrafen der Täter.

Man muss aber fairerweise zugeben, dass sexueller Missbrauch nicht allein ein Problem der Kirche ist. Auch in den Familien sind Kinder sexueller Gewalt ausgesetzt, und Inzest ist immer noch ein Tabuthema.

Aus Opfern werden Täter

Das Thema Kindesmissbrauch offenbart sowohl die Kirche als auch die Gesellschaft als perverse Strukturen (Perversion, vom Lat. „perversio“, Umkehrung, Verdrehung): Die eine predigt Liebe und sät Gewalt, die andere soll schützen, deckt jedoch Verbrechen. 2.000 Jahre christliche Moral, die eine Thematisierung von allem, was mit Sexualität zu tun hat, seit jeher verdammte, haben Wesentliches zu dem sozial-psychologischen Phänomen der Tabuisierung beigetragen. Schlimmer noch: Diese Sexualmoral führte zu der Perversion, die die Opfer an den Pranger stellte. Wird z.B. eine Frau vergewaltigt, finden sich immer wieder welche, die sagen: „Sie hat es ja so gewollt“, oder „Sie ist ja selber schuld, sie hat die Männer provoziert“.

In einer Umkehrung der Tatsachen wird das Opfer zum Täter gestempelt. Ähnlich ergeht es missbrauchten Kindern. Der vergewaltigte Körper erinnert die Betroffenen ein Leben lang an die ihnen angetane Gewalt. Psychologen zufolge fühlen sie sich dadurch anders als die meisten Menschen, denen dies nicht zugestoßen ist. Schuldgefühle sind die Folge.

Kürzlich forderte Justizminister François Biltgen im Rahmen einer Debatte zur Reform des Abtreibungsgesetzes mehr sexuelle Aufklärung in den Schulen. Eine berechtigte Forderung. Allerdings genügt es nicht, den Kindern die Bedeutung von Verhütung zu erklären. Vielmehr muss ihnen – und das schon im Kindergarten – auf eine ihnen verständliche Art und Weise klargemacht werden, was Missbrauch ist, was ein Erwachsener mit ihnen tun darf und was nicht. Die Kinder müssen lernen, dass jeder Mensch Grenzen hat, und erkennen, wenn jemand die ihrigen überschreitet.

Sind die konservativen Kreise unserer Gesellschaft bereit, diese Themen offen und ohne Vorbehalte anzugehen?
Dafür müsste allerdings die Kirche zuerst ihre Sexualmoral grundsätzlich in Frage stellen.

Claude Molinaro
[email protected]