„Zeitenwende“ – dieser Begriff wurde zum Signum der Gegenwart. Aus dem 12. Jahrhundert stammt von Bernhard von Chartes das schöne Wort: „Wir sind Zwerge auf den Rücken von Riesen.“ Diesem Motto folgend werfe ich mit wenigen Einsichten großer Philosophen Schlaglichter auf diesen Umbruch, was zu erschreckenden Einsichten führt. Wir erleben einen gravierenden Zivilisationsrückschritt. Dabei ist für mich mit Norbert Elias, gestorben 1990, Kriterium des Grades der Zivilisation: „die Reichweite und die Tiefe der Identifizierung von Menschen miteinander und dementsprechend auch die Tiefe und Reichweite des Vermögens der Empathie, des Ein- und Mitfühlens im Verhältnis zu anderen Menschen.“
Kant formuliert 1795 in seinem Essay „Zum ewigen Frieden“ als unverzichtbare Grundlage des Friedens: „Es soll kein für sich bestehender Staat … von einem andern Staate durch Erwerb, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können“ – die Praxis der Supermächte seiner Zeit. Denn Staaten sind „als eine Gesellschaft von Menschen“ selbst eine „moralische Person“, „über die niemand anders als er selbst zu gebieten“ hat. Staaten sind das Medium der kollektiven Selbstbestimmung, der Freiheit. Was aber macht Trump anders als die Ukraine wie einen Tauschgegenstand zu behandeln, über den er verfügen kann? Eine krasse Missachtung der Idee, Menschen niemals nur als Mittel zu behandeln.
Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur Demokratie stellt – wiederum Elias – das mangelnde Vertrauen dar, dass nach der Machtübergabe die neuen Herren nicht Rache an der alten Regierung nehmen. Ohne dieses Vertrauen ist Demokratie unmöglich. Indem Trump heute unverhohlen Rache nimmt an denjenigen, die sich in der Vergangenheit gegen ihn gestellt haben, zerstört er eine wesentliche Ressource der Demokratie, das Vertrauen in die neue Regierung, ihre Macht nicht zu missbrauchen.
Auch zerstören die schamlose, demonstrative Missachtung des Völkerrechts, die Trump mit seinen Gewaltandrohungen gegen Panama und Dänemark zeigt, sowie die Drohung, die Bündnisverpflichtung nicht zu erfüllen, jedes Vertrauen in die Regel- und Vertragstreue der USA. Allein das dürfte das Ende des transatlantischen Bündnisses bedeuten.
Noch einmal Elias: Sich in andere als Menschen wie mich hineinzuversetzen, hängt engsten mit dem „Wir“ zusammen, mit dem ich mich identifiziere. Wenn auch die USA während des Kalten Krieges immer ihre Interessen vertraten, gab es doch auch so etwas wie ein „Wir“-Bewusstsein, das die liberalen Demokratien umfasste, als dessen Schutz- und Führungsmacht sie sich verstanden. Das scheint heute verloren gegangen zu sein. Für die Mehrheit der Amerikaner endet die Solidaritätsgemeinschaft des „Wir“ heute an ihrer Nation.
Raubbau an den Ressourcen der Zivilisation und Demokratie: Instrumentalisierung ganzer Völker, Verlust menschheitsweiter Empathie, Zerstörung von Vertrauen in die Selbstbändigung von Macht. Man wird nicht darum herumkommen, mit Trump Kompromisse zu schließen, das kleinere Übel zu wählen. Auf keinen Fall jedoch sollten wir unter unser Niveau gehen. Die Ressourcen der Zivilisation sind schnell geplündert und nur mühsam wieder aufzubauen. Die langfristigen Folgen für den Frieden wären fürchterlich.
Gefahren drohen keineswegs nur von der anderen Seite des Atlantiks. Schauen wir auf die Debatten in Europa zum Asylrecht. Nach Elias schlummern im kollektiven Unterbewussten der westlichen Staaten zwei widerstreitende Überzeugungen. Die eine ist die der Humanität, wie es sich bei Kant und Schiller findet. Ihr steht der exklusive, von rücksichtsloser und gewaltsamer Interessendurchsetzung geprägte Adelskanon gegenüber. Der Verhaltenskodex des Adels wurde von den Bürgern übernommen, als sie die Macht im Staat übernahmen, und sich der „Glaube an die ‚Nation‘ als ein sakrosanktes Wir-Ideal“ in der „Massengesellschaft“ durchsetzte, die in „Konflikte mit anderen Massengesellschaft“ geriet.
Als 2015 die große Flüchtlingswelle über Deutschland hereinbrach, wurde das Humanitätsideal aktiviert. Heute, da es den Anschein hat, dass die Flüchtlinge eine Bedrohung darstellen, bricht sich das nationalistische „Wir“-Ideal wieder Bahn. Die Flüchtlinge werden in einem „Sie“-Bedrohungskollektiv zusammengefasst. Sie werden nicht mehr als leidende Menschen mit Nöten und Hoffnungen gesehen wie wir. Ein großer Zivilisationsverlust auch in Europa!
José Ortega y Gasset, der früh den Faschismus kommen sah, bedauerte, dass es keine zukunftsweisenden Projekte mehr gäbe, wie es der Liberalismus war, „nämlich das politische Rechtsprinzip, nach welchem die öffentliche Gewalt, obgleich sie allmächtig ist, sich selbst begrenzt und … in dem Staat, den sie beherrscht, eine Stelle für jene frei lässt, die anders denken und fühlen als sie, das heißt als die Starken, als die Majorität.“
Auch der Konservativismus war, so Karl Jaspers, gestorben 1969, ein großer Entwurf. Er verstand sich durchaus als vorantreibende Kraft, „die bewegt ist durch aufgeschlossene Liberalität“. „(D)as tatsächlich Neue“ wird zur „Substanz des Daseins“ „in Koinzidenz mit der Überlieferung aus dem Quell ewiger Gültigkeit“.
Nur wenige Stimmen weisen heute auf die untergründigen Verschiebungen hin, die stattfinden. Ihre negativen Wirkungen für Frieden und Sicherheit werden sie sehr bald offenbaren. Die kulturelle Entwicklung einfach sich selbst zu überlassen, bezeichnet Ortega y Gasset als die „Fahnenflucht der Eliten“. M.E. brauchen wir jenseits aller bedrängender tagespolitischer Fragen Führungspersönlichkeiten mit Weisheit und historischem Sinn, die verstehen, was wirklich vor sich geht, von welchen Dynamiken Aufstieg und Niedergang der Zivilisation abhängen, und – auf dem Rücken der Riesen unserer Tradition – neue politische Ideen und Konzepte entwickeln, um den Weg in die Barbarei aufzuhalten.
De Maart
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