LEITARTIKEL: „Kultur fir jiddwereen“

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„Kultur soll fir jiddwereen do sinn. / Emile Hengen

Si wäert an Zukunft fir jiddwereen do sinn!“ Dies verkündete Premierminister Jean-Claude Juncker Ende Juli in seiner Rede zur Regierungserklärung für die bevorstehende Legislaturperiode. „Kultur für alle, auch für Menschen, denen aufgrund persönlicher Schicksalsschläge oder finanzieller Engpässe der Zugang zur Kultur bis dato verwehrt blieb“ – eine Zielsetzung, die auch die neu erkorene Kulturministerin Octavie Modert in einem Tageblatt-Interview Anfang August unterstrich.
„Kultur für alle!“ Kultur für alle? Moment mal! Handelt es sich hierbei nicht um ein „Déjà-entendu“? War diese „Richtlinie“, diese kultur- und sozialpolitische „Maxime“, nicht bereits im Jahr 2004 ein fester Bestandteil des Koalitionsabkommens und der Wahlversprechen von CSV und LSAP? Warum also sollten wir ihnen dieses Mal Glauben schenken?
Kulturministerin Octavie Modert, Familienministerin Marie-Josée Jacobs sowie die gemeinnützige Vereinigung „Cultur’all“, zusammengesetzt u.a. aus Mitgliedern von CLAE, „ATD Quart Monde“ und „Stëmm vun der Strooss“, verkündeten am Internationalen Tag der Armutsbekämpfung am 17. Oktober 2009 in aller Öffentlichkeit die Einführung eines Ausweises, der sozial benachteiligten Menschen erlaubt, kulturelle Einrichtungen und Veranstaltungen quasi zum Nulltarif zu besuchen und am kulturellen Leben teilzuhaben.
Sie alle sind der festen Überzeugung, dass Kultur nicht nur die konventionellen Sparten des künstlerischen Ausdrucks umfasst, sondern auch das gesamte kreative Potenzial einer Gesellschaft. Denn kulturelle Werte prägen nicht nur die politische, sondern auch die soziale Entwicklung unseres Gesellschaftssystems.

Bestätigung der Würde des Menschen

„La pauvreté culturelle est plus discriminatoire que la pauvreté économique, car elle touche non pas à l’avoir mais à l’être!“, verdeutlichte Kristel Pairoux, Vorstandsmitglied des im Jahr 2008 gegründeten Vereins „Cultur’all“ – Initiator des Konzepts „Kulturpass für bedürftige Menschen“. Dies lange bevor die jetzige Regierung den endgültigen Entschluss fasste, einen solchen Pass einzuführen, wie er z.B. in Wien, Graz und Linz dank der Vereinigung „Hunger auf Kunst und Kultur“ bereits seit 2003 zu beantragen ist. Woher dieser plötzliche Sinneswandel? Und warum benötigt die Regierung erst ein Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, um ihrer Pflicht nachzukommen, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankerten Grundrechte (Recht auf Bildung und Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben) für jeden in Luxemburg lebenden Menschen zu gewährleisten? 14% aller Luxemburger stehen an der Schwelle zur Armut. 6,2% sind besonders hart getroffen. Vor dieser drastischen Zahl darf auch die Regierung ihre Augen nicht verschließen.
Der auf Initiative der Vereinigung „Cultur’all“ entstandene und von gemeinnützigen Vereinigungen seit Jahren geforderte Kulturpass soll also Abhilfe leisten. Jeder bedürftige Bürger kann einen solchen Pass anfordern.
Doch welche Veranstaltungen und Orte, in denen Kultur geschaffen wird, er mit diesem besuchen kann, liegt einzig und allein in den Händen der Kultureinrichtungen dieses Landes. Die Mehrzahl, bis auf einige Ausnahmen – vorwiegend Kulturhäuser, die nicht von öffentlichen Geldern finanziert werden – haben der Konvention von „Cultur’all“ zugestimmt und gewährleisten ab dem 1. Januar 2010 bedürftigen Menschen zum Preis von 1,50 Euro Zugang zu ihren Veranstaltungen.
Die Differenz zahlt aber nicht der Staat, der die Vereinigung „Cultur’all“ lediglich in logistischen Fragen berät und unterstützt, sondern die Kulturinstitution selbst. Es zeigt sich somit wieder einmal, dass der kulturelle Fortschritt in unserer Gesellschaft von einzelnen engagierten Kulturschaffenden vorangetrieben wird und nicht in erster Linie vom Staat. Initiatoren wie auch sämtliche Vereinigungen und Kulturhäuser, die sich am Projekt „Kulturpass“ beteiligen, sind der festen Überzeugung, dass es mit dem „reinen Konsum“ von Kultur nicht getan ist. Es ist nicht nur die Aufgabe der Regierung, sondern von uns allen, die soziale Integration durch Ausbildung und Sensibilisierung im kulturellen Bereich zu begünstigen. Denn nur die Teilnahme aller Menschen am sozialen und kulturellen Leben schafft den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer gesunden Demokratie.

ehengen@tageblatt.lu