Festivalmania

Festivalmania
(Alain Rischard/editpress)

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Venedig: Johnny Depp kommt mit großer Glasflasche in der Hand zur Pressekonferenz und lallt: „Da ist kein Alkohol drin.“ Am roten Teppich jubeln die Fans.

Deauville: Robert Pattinson hat abgesagt. Ganz kurzfristig und ohne viele Worte. Die Eröffnung läuft ohne den Harry Potter- und Twilight-Star. Am roten Teppich heulen die Fans. Es ist Festivalzeit. Wie übrigens das ganze Jahr. Nach Berlin im Februar, Cannes im Mai und Locarno im Juli sind nun die Blitzlichter nach Venedig, zur Mostra, dem ältesten Filmfestival weltweit, und nach Deauville, dem Festival mit französischem Glamour und amerikanischen Filmen, gerichtet.

Und damit sind nur die Großen genannt. Verlässt man sich auf die Zahlen der Interessenvertretung europäischer Filmfestivals (ECFF), dann gibt es alleine in den europäischen Mitgliedstaaten über 800 Filmfestivals, die Kurzfilm- und Dokumentarfilmfestivals noch nicht mitgerechnet. Nimmt man die Theaterfestivals hinzu, lässt sich die Zahl ohne Bedenken verdoppeln, mit den Musikfestivals sogar vervierfachen.

Natürlich, es gab schon immer Festivals. In der griechischen Polis etwa fand Kunst, vor allem Theater, fast nur im Rahmen festivalähnlicher Veranstaltungen statt. Dennoch: Wie lässt sich der Hype, der Boom, der vor allem seit den neunziger Jahren eingesetzte Anstieg an Festivals erklären? Ihn ausschließlich als Resultat überbordender künstlerischer Aktivität zu sehen, scheint doch etwas zu idealistisch …

Zurück zur Polis: Menschen trafen sich in der Agora, um gemeinsam Kunst zu genießen, gemeinsam einen Schauspieler zu verehren, gemeinsam einem Thema zu frönen. Ein wahres Fest! Dieser Gemeinschaftscharakter ist auch heute noch ausschlaggebend für die Faszination Festival. Festivals scheinen die unterschiedlichsten Bedürfnisse nach Gemeinschaft, nach Aufmerksamkeit, aber auch nach Selbstdarstellung und finanzieller Bereicherung – bedenkt man, dass jedes größere Festival einen es begleitenden Markt besitzt – zu befriedigen.

Daraus ableiten lässt sich ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund für den Festivalhype der letzten Jahrzehnte: politisches Kalkül. Seit Mitte der neunziger Jahre, mit dem Beginn der Regelungen zur Kultur im Vertrag von Maastricht 1992, werden Antworten auf die Schwierigkeiten bei der Konsolidierung der EU in der Stärkung von europäischer Kunst und Kultur gesucht. Fördermittel fließen und werden – die Gefahr besteht – nicht selten von der Finanzierung unserer alltäglichen Versorgung mit Kultur in kulturelle Großereignisse umgelenkt, lassen sich doch über sie die Aufmerksamkeit von Wählern, Medien und Kulturtouristen offensichtlicher bündeln und lenken.

Bleibt diese Konzentration, die ein Festival zwangsläufig mit sich bringt, allerdings nur ökonomischen oder wahltaktischen Interessen vorbehalten, dann verkommt jedes Festival – mit oder ohne Depp – zur Farce. Gerade in politisch aufgeladenen Zeiten ist ein gelungenes Kunstfestival auch immer Seismograf, spürt Tendenzen auf und verzaubert uns mit Zukunftsperspektiven …

jstroetgen@tageblatt.lu