Ein grelles stroboskopisches Aufblitzen bringt den vollen Saal des Kapuzinertheaters auf einen Schlag zum Schweigen. Auf dem kargen Bühnendekor aus rotem Sandstein tauchen zwei junge Frauen auf, bepackt mit Koffern. Die eine Weiß (Dorothée Neff), die andere Schwarz (Shayde Sinclair), und wie sich herausstellt, sind sie beide gewissermaßen nach Hause gekommen: Das Weiße Mädchen hat ihre Schwarze Freundin über Weihnachten ins Haus ihres Großvaters in einer nicht näher benannten, ehemaligen Kolonie des britischen Empires eingeladen. Und zwar an den Ort, von dem die Mutter der schwarzen Freundin einst ins Motherland zog. Es hätte die Koffer nicht gebraucht, um dem Zuschauer zu vermitteln: Hier ist man mit schwerem Gepäck angereist.
Anna Leaders „Stolen Ground“ ist allerdings keineswegs von der plumpen Metaphorik durchzogen, die die Eröffnungsszene insinuiert. Im Gegenteil: Inszeniert vom englischen Regisseur Richard Twyman, der 2020 bereits Leaders „Deliver Us“ in Luxemburg realisierte und vergangenes Jahr mit dem English Touring Theater „Macbeth“ auf die Bühne des großen Theaters brachte, gelingt es dem Stück, staubig-schwere Themen mit unerwarteter Frische aufzugreifen. „Stolen Ground“ will laut Programmheft die Story einer knospenden Beziehung zweier ungleicher Teenagerinnen durch die Linse britischer Kolonialgeschichte erzählen. Aber eigentlich ist es umgekehrt: „Stolen Ground“ erzählt die Geschichte des Kolonialismus anhand der Realität zweier Teenager und erschafft genau deshalb dort eine wahre Tragödie, wo doch alle Zeichen auf „postkoloniales Melodrama“ stehen. Hätte also gehörig schiefgehen können, ist es glücklicherweise nicht.
Gegenseitige Entfremdung
Die zwei Mädchen befinden sich also auf dem Anwesen des kürzlich verstorbenen Großvaters (Marco Lorenzini), der in den Wirren kolonialer Auflösung zu unermesslichem Reichtum kam. Das Weiße Mädchen verspricht ihrer Schwarzen Freundin arglos ihren Anteil am großväterlichen Erbe, um die Finanzierungslücke zwischen ihrem Stipendium und den Einschreibungsgebühren an der teuren Privatschule zu schließen. „Aber du bezahlst doch sowieso schon das Fünffache von mir“, beschwert diese sich und zögert, die milde Gabe entgegenzunehmen. Was zuvor durch gemeinsame Zimmer und Uniform am Internat nivelliert wurde, tritt außerhalb der Mauern sichtbar zutage: die Klassenunterschiede und die dominierende, gesellschaftliche Hierarchie.

Kann eine Freundschaft auf Augenhöhe gedeihen, wenn sie auf dem Boden der Ungleichheit wächst? Wie kann man im Hier und Jetzt vergangenes Unrecht berichtigen, das man selbst nicht verursacht hat, dessen Früchte man aber immer noch erntet? Was ist das Motiv hinter Philanthropie? Es sind diese Fragen, um die das Stück herum sich entfaltet und dann wieder verdichtet, die aus dem zarten Versprechen des Sich-näher-Kommens am Anfang ein huis-clos machen, überschattet von Scham- und Schuldgefühlen. Die Teenagerinnen, beste Freundinnen, erfahren nahezu hilflos gegenseitige Entfremdung, der Vater (Philipp Alfons Heitmann) versucht, das Andenken der Familie weißzuwaschen und zugleich seine Ehe zu retten und über allem thront der Großvater, selbstgerecht und tot, der für seinen Aufstieg über Leichen ging und dies niemals bereut hat.
Leader, Twyman und wohl auch dem Dramaturgen Rikki Henry ist es zu verdanken, dass das Stück dabei nicht in die Falle des didaktischen Monologs tappt. Keiner der Charaktere muss dem Publikum sein Innenleben ausrollen, damit auch der letzte Depp das Problem versteht. Alles gelingt durch eine dem Spiel und Text innewohnende Dynamik, die mal stockend, dann wieder reißend der Unausweichlichkeit des Endes entgegensteuert.
Jammern auf hohem Niveau
Ohne zu viel verraten zu wollen: Das Ende ist vielleicht einer der wenigen Wermutstropfen des Stücks. Denn obwohl von Anfang klar ist, dass auf die aufgeworfenen Fragen nach Herkunft, Gleichheit, Heilung und Schuld keine zufriedenstellende Antwort zu finden ist, bleiben doch die Pfade, die die Charaktere erkunden, unbefriedigend selbstzentriert. Das mag ihrer angedichteten Jugend geschuldet sein, doch eigentlich ist es doch stets die idealistische Jugend, die nicht sich selbst, sondern immer zuerst die Welt verändern will. Die Selbstbezogenheit der Figuren, die hinsichtlich der dramaturgischen Entwicklung ihrer Intimität ihre Berechtigung hat, wird zum Ende hin seicht, wenn sie nicht fähig sind, sich daraus zu lösen. Stolen Ground spiegelt dann, ob gewollt oder nicht, den aktuellen identitätspolitischen Diskurs wider, der Antworten in der Essentialisierung des Selbst sucht, weil ihm das theoretische Handwerkszeug alter weißer Männer, wie etwa der historische Materialismus, suspekt erscheint. Das wird sehr deutlich, wenn sich die Schwarze Freundin sarkastisch ausmalt, was sie mit dem geschenkten Geld alles verändern würde – und dabei den Antikapitalismus in einem Atemzug mit der Philanthropie abkanzelt.
Das ist wohlgemerkt Jammern auf hohem Niveau – und vielleicht ist es auch die Weltfremdheit des Kritikers, sich mehr Marx in einem Stück über zwei 17-jährige Teenager zu wünschen. „Stolen Ground“ ist auf jeden Fall ein überaus sehenswertes, angenehm kurzweiliges Stück, das sein Thema und sein Publikum gleichermaßen ernst nimmt, ohne den didaktischen Hammer zu schwingen. Wenn Leader sich diese Qualität in ihrem Schreiben bewahrt, dann ist zu hoffen, dass in diesem Land noch viele Stücke aus ihrer Feder den Weg auf die Bühne finden.
„Stolen Ground“ läuft noch am 11., 12., 13., 15., 16. und 17. Oktober im Kapuzinertheater in Luxemburg-Stadt.
De Maart

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