Sonntag16. November 2025

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KunsteckeZusammenbruch als Prinzip

Kunstecke / Zusammenbruch als Prinzip
Drei Lithografien auf Papier  Fotos: Fernand Weides

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Nach 2019 ist der französische Konzeptkünstler, Plastiker und Maler Bernar Venet erneut in der Galerie Ceysson & Bénétière auf Wandhaff zu Gast. Zeigte Venet damals Malereien in der ehemaligen Galerie Ceysson auf Fischmarkt und Plastiken in den Räumlichkeiten auf Wandhaff, so vereint er diesmal seine gesamte Kunstpalette in der ehemaligen Lagerhalle abseits der Hauptstadt unter dem Titel „Gravité“ (Schwerkraft).

Venet, ein international anerkannter Künstler, der in Frankreich eine eigene Stiftung gegründet hat, ein Ort, an dem er seine private Kunstsammlung mit Werken renommierter Kollegen nebst eigenen Arbeiten präsentiert, ist seit langem mit Bernard Ceysson verbunden; gemeinsame Projekte stehen demnach immer wieder auf der Tagesordnung. Da der Künstler bei seinen Plastiken vorwiegend Stahl anwendet, gibt es in einem Land mit einem großen Stahlproduzenten wie ArcelorMittal eine weitere Beziehung zu Luxemburg. Wer sich Plastiken von Venet im öffentlichen Raum anschauen möchte, der kann dies vor dem früheren Arbed-Sitz in der avenue de la Liberté (heute Spuerkeess) oder auch vor der Galerie auf Wandhaff tun.

Kohle und Stahl als Metapher

Bevor Bernard Venet mit seiner aktuellen Ausstellung nach Luxemburg gekommen ist, hat er bis Mitte September im lothringischen Meisenthal in der dortigen Verrière-Halle zwei monumentale Werke unter dem Titel „Du tas à l’effondrement“ ausgestellt, die Konfrontation eines Kohlehaufens mit einem eingestürzten Werk aus 40 Stahlbögen. Mit Kohle und Stahl sollten laut OPUS „ein Material aus der Natur“ und ein Produkt der „Macht des Menschen“ in Dialog gestellt werden. Für den Künstler ist dies auch ein Beispiel, wie er in seinem Schaffen ein „dynamisches Prinzip“ auszudrücken vermag. In seinen Notizen im Begleitprospekt zur Ausstellung erläutert der Künstler mit dem „Einsturz“ von Bögen seine Herangehensweise bei der Entstehung von Skulpturen.

Bögen (Arcs) reihen sich in sein Ausgangsthema, Arbeiten rund um die „Linie“, ein. Seit 1976 verfolgt er diese Piste, wobei er in seiner Argumentation auf ein Werk im Nationalmuseum in Paris, das die grafische Umsetzung der Funktion y = x2/4 zeigt, verweist. Dies habe er bereits 1976 in Bildern und Bögenskulpturen illustriert.

Für Venet spielen Begriffe wie „Durcheinander“ und „Zusammenbruch“ oder „Unsicherheit“ als Arbeitshypothese eine wesentliche Rolle – für ihn dient das Material nicht dazu, „Formen“ zu gestalten, vielmehr ist das Material die Form selber. Seine Plastiken, die aus mehreren Bögen und/oder eckigen Strukturen zusammengestellt sind, ergeben sich nicht aus einer Skizze vor Inangriffnahme der Plastik, vielmehr legt er Wert auf den Moment, wo er diese Bögen oder sonstigen Gebilde zusammenstellt, sie sozusagen frei aufeinander legt oder ineinander verhakt. Hierbei spielen jedoch eine gewisse Logik und die Schwerkraft eine Rolle. Und da dem so ist, hat der Künstler auch anlässlich der Preview zur Ausstellung auf Wandhaff in einer Performance mit einem Gabelstapler eine bereits zurechtgelegte monumentale Plastik mit dem klangvollen Namen „Empilement-Effondrement“ aus 20 Bögen aus Cortenstahl durch ein mit entsprechendem Radau einhergehendes Manöver einstürzen lassen und in ihre endgültige Form gehoben.

Er gibt gerne zu, dass er nicht weiß, wie das „Endergebnis“ aussehen wird, da in der Manipulation und durch die Veränderung „Kräfte“ freigesetzt werden, die er dann nicht mehr vollends kontrolliert.

Ordnung und Unordnung

Er rechtfertigt den Titel „effondrement“ damit, dass dies einer „Störung“, einer „Unruhe“ gleichkomme, ein Aufeinandertreffen einer organisierten Handlung und eines Ereignisses, woraus eine „Unsicherheit“ entstehe. Dies sei ähnlich wie beim Konzept „Katastrophe“, das bekanntlich auch zu einer „Desintegration“ führe. Das solle nicht negativ interpretiert werden, meint er, entstehe daraus doch immer wieder etwas „Neues“, aus „Ungleichgewicht“ und „Unstabilität“ ergebe sich sozusagen eine andere „Organisation der Bögen“. Er will sich damit nicht anderen „Kompositionssystemen“ verwehren, er will auch nicht „ausschließen“, sondern anders „integrieren“ und „verbinden“. In seinen Erläuterungen geht Venet auf andere Prinzipien und Schaffensweisen ein, um seine Methode mit der Aussage zusammenzufassen, sie fuße nicht auf „Ausschlüssen“, vielmehr laufe sie auf „l‘interrelation des idées d’ordre et de désordre“ hinaus.

Die Ausstellung „Gravité“ umfasst neben Fotografien seiner Performance mit einem Kohlehaufen im Jahre 1997 (ein entsprechender Kohlehaufen wird übrigens auch gezeigt) auch 14 Skulpturen in diversen Formaten und Ausprägungen, die von der Tischplastik bis zur monumentalen Skulptur „Empilement-Effondrement“ mit 20 Bögen reichen, acht Malereien und Zeichnungen, die teils rezent, teils vor Jahren gefertigt wurden, 14 Gravuren und Lithografien, teilweise paarweise gruppiert, sowie – und das ist eine echte Überraschung – sieben Möbelelemente, ob Wand-Bibliotheken oder eine Sitzgruppe aus Stahl, wobei das Material Stahl frei dekliniert wird.

Bernar Venet ist ein renommierter Künstler, sodass zahlreiche Exponate bereits bei der Preview verkauft waren, doch lohnt sich ein Besuch der Ausstellung allemal. Der Allroundkünstler Bernar Venet verfolgt, wie er erklärt, das Prinzip der „Linie/Geraden“, die er in Cortenstahl gekleidet biegt, dreht oder knickt, mal in Liegestellung, mal aufrecht stehend an eine Wand gelehnt. Auch in seinen Zeichnungen, Malereien und Lithografien geht er ähnlich vor, wobei seine Arbeiten auf Papier in der gesetzten Farbgebung und der Papierauswahl dem dargestellten Material möglichst nahe kommen sollen. Besonders eindrucksvoll gestalten sich in diesem Sinne die fünf paarweise gruppierten Lithografien. Das soeben erwähnte Mobiliar setzt sich formal dabei etwas ab, bleibt jedoch der Finalität, „Linien“ sprechen zu lassen, treu.

Wer in die künstlerische Gedankenwelt des Bernar Venet eintauchen möchte, der beobachte über der Großskulptur an der Wand im ersten Galerieraum seine hier aufgelisteten Arbeitsleitlinien, die da heißen: „désordre, instabilité, rupture, dispersion, déséquilibre, antagonisme, entropie, désorganisation, perturbation, imprévisible, déviance, incertitude, aléatoire, désintégration …, et j’en passe“. Kurzum: Seine künstlerische Gedankenwelt ist komplex, seine Arbeiten beeindruckend.

Bernar Venet posiert vor seiner Großskulptur, die er mit einer Performance verändert hat
Bernar Venet posiert vor seiner Großskulptur, die er mit einer Performance verändert hat

Info

„Gravité“ von Bernar Venet. Noch bis 18. November 2023 in der Galerie Ceysson & Bénétière, Wandhaff/Koerich, 13-15, rue d’Arlon L-8399.