Wenn Du krank bist, hast Du nicht genug Sport gemacht. Wenn Du arbeitslos bist, bist Du zu faul oder kannst Dich nicht gut vermarkten. Arbeite gefälligst an Deiner Selbstoptimierung! Und in vermeintlich ökologischer Wendung: Wenn Du den Müll nicht richtig trennst, bist Du mitverantwortlich für die Klimakatastrophe.
In dem Sammelband „Selbst Schuld“ erheben Autor:innen (darunter Christian Baron, Dietmar Dath, Aladin El-Mafaalani oder Anke Stelling) in dreizehn Essays Einspruch gegen das „neoliberale Mantra“ und die Verleugnung gesellschaftlicher Strukturen. Sie tun dies nicht nur aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, sondern wählen auch verschiedene Text-Formen. Herausgegeben haben den Band die Feministin Ann-Kristin Tlusty und der Youtuber Wolfgang M. Schmitt.
Schlechtes Gewissen wegen Forellenmordes
Autorin Anke Stelling („Schäfchen im Trockenen“, 2018) etwa behandelt das Thema autofiktional, anhand von persönlichen Kindheitserinnerungen. Sie erzählt, wie sie als Kind Forellen aus einem Bach für ihr Aquarium fischte, in naiver Unkenntnis, dass diese nicht überleben würden. Ihre Mutter spülte die Tiere kurzerhand im Klo herunter. Die Ich-Erzählerin plagte fortan die Schuld: „Du träumst von diesen Fischen: den Lebewesen, die du auf dem Gewissen hast. Etwas auf dem Gewissen haben heißt, schuld zu sein an dessen Tod.“ Es stecke „Wissen in dem Wort Gewissen, weil das Wissen die Grenze ist zwischen aus Versehen und mit Absicht.“
Zu Beginn des Lebens funktioniere der Satz „Ich hab’s nicht gewusst!“ manchmal noch, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, sich selbst freizusprechen, doch ehe man sich versehe, könne man die Folgen seines Handelns überblicken.
Geschichten von Klassenflüchtlingen

Die ehemalige Bundessprecherin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich, schreibt „Aufstiegsgeschichten“ aus der ebenfalls autobiografischen Perspektive eines „Klassenflüchtlings“. Didier Eribon lässt grüßen.
Eines Tages hatte sie, die in Armut aufwuchs und Hartz-IV-Leistungen bezog, zufällig Glück gehabt. Denn der Vermieter wählte nicht die Person mit dem besten Einkommen, sondern diejenige, die als Erste da war, als Mieterin aus. „Mit meinem Umzug war meine Zeit in Armut mit einem Ablaufdatum versehen“, so die Ich-Erzählerin. Endlich konnte sie sich beim Jobcenter, einem Ort, der „mit Schmerz, Abwertung und Scham verbunden“ war, abmelden. Sie beschreibt wie Schuldgefühle in ihr hochkamen, angesichts der Tatsache, dass ihr der Ausbruch gelang. Sie schämte sich für ihr Entkommen.
Eindrucksvoll fängt Heinrichs das Leben in prekären Verhältnissen ein: „Es geht um ein Leben ohne Angst und Einsamkeit – und genau das ist für Menschen, die arm sind, purer Luxus.“ Schuld an der hässlichen Fratze der Armut sieht Heinrichs nicht zuletzt bei den Medien: Uns würden regelrechte „Armutspornos vorgesetzt.“ Ein Bild gezeichnet von dreckigen, hässlichen Menschen, die ihre Unterstützung, die eigentlich für Windeln da sei, versaufen oder sich davon Zigaretten kaufen. Das mag für Privatfernsehen und Formate wie „Familien im Brennpunkt“ zutreffen, doch, ist es nicht verkürzt, alle Medien über einen Kamm zu scheren?
Heinrich hat Wut auf das Wirtschaftssystem, ein „System, das auf ein Oben und ein Unten angewiesen ist“. So versteht sie, wie die Arbeiterkinder an die FDP geraten, denn „die Idee der Leistungsgerechtigkeit vermittelt uns eine fiktive Kontrolle über unser eigenes Leben“. Ihr Schluss-Plädoyer klingt etwas hilflos politikgerecht: Man müsse die Verantwortung dort suchen, wo sie hingehört: Bei den Profiteuren der Ungleichheit und bei den Regierenden, die diese Privilegien verteidigten.
Träumen Sie weiter, Herr Baron!
In ein ähnliches Horn bläst Christian Baron (wie in seinem Roman „Ein Mann seiner Klasse“, 2020). In seinem eher journalistischen Text teilt er sowohl gegen grüne Akademiker-Kinder aus wie die Klima-Aktivist:innen von Fridays for Future als auch gegen die deutsche Linke, die sich in Moralismus ergehe, „anstatt den Zeitgeist anzuerkennen“.

Sein Wunschdenken: ein Rechtsstaat, der diesen Namen verdient, schert sich nicht um Moralismen. Er garantiert jedem ein würdiges Leben. Schöne alte Idee, möchte man sagen: Warum hat es nur bisher nicht geklappt? Mit-Herausgeberin Ann-Kristin Tlusty nimmt sich in ihrem Essay „Faulheit“ die Selbstoptimierung vor. Als Reaktion auf die „Tyrannei der Freiheitsdisziplin“ sei in den vergangenen Jahren auf dem Buchmarkt ein „Gegengewicht zu all den Productivity-Bros und Zeitmanagement-Apps entstanden“, im Sinne von „How to Do Nothing“. Kein Wunder, dass sich Ratgeber mit Rückbezug auf den Stoiker Marc Aurel heute besser verkaufen denn je. Aber sollte es nicht ein Recht auf Faulheit geben?
Selbstoptimierung und ein Recht auf Faulheit
Publizistin Seyda Kurt hat in ihrem Beitrag ihre Instagram-Abhängigkeit dokumentiert und berichtet von einer schier unmöglichen Abstinenz. Dass gerade dieses Kapitel recht flach geraten ist, ist schade, beschreibt sie doch ein virulentes Phänomen und holt viele da ab, wo sie im Grunde permanent hängen: beim Konsumieren von Reals in den (un-)sozialen Medien.
Die Juristin und Journalistin Özge Inan bezieht die „Schuldfrage“ kohärent auf „sexualisierte Gewalt“. Ihr Beitrag thematisiert auf kluge Weise das Victim-Blaming, dem von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen oft ausgesetzt sind. Ausgehend von der Wander-Ausstellung „Was ich anhatte“, die anhand von Kleidungsstücken, die Frauen bei ihrer Vergewaltigung trugen, nachzeichnet, wie Frauen den Missbrauch erfahren haben, stellt sie die Schuldfrage, die sich die Opfer sexueller Gewalt oft selbst stellten. Absurderweise müssten Frauen in Prozessen zunächst ihre eigene Unschuld beweisen. Werde hingegen über Raubüberfälle informiert, müssten Ausgeraubte nicht erst „überzeugt werden, dass sie keine Verantwortung tragen“, so Inan.
Selbstbeschuldigung vergewaltigter Frauen
Inans Plädoyer zur pädagogischen Selbststärkung der Frauen ist recht radikal. Statt Mädchen beizubringen, wie sie die Libido ihrer Lehrkräfte durch das Tragen züchtiger Kleidung in Schach halten, müssten sie hören, wo sie einem Lehrer am besten hintreten, wenn er ihnen zu nahe kommt. „Kommende Generationen sollen so oft hören, dass bei sexualisierter Gewalt der Täter und nur der Täter Schuld hat, bis es die Klarstellung nicht mehr braucht“, so Inan. Oder wie Gisèle Pelicot es nach dem historischen Prozess im letzten Jahr auf den Punkt brachte: „Es wird Zeit, dass die Scham die Seite wechselt.“
Die gesellschaftliche Schuldzuweisung führe zur kollektiven Entsolidarisierung mit den Betroffenen, so die Autor:innen. Es sind engagierte Texte, deren Analysen – mit Ausnahme des Beitrags von Dietmar Dath in seinem Essay „Alltags-Theologie“ – jedoch nicht allzu weit gehen. Den Band als „Manifest kritischen Denkens für die Gegenwart“ zu bezeichnen, ist hoch gegriffen. Es ist eine anregende Lektüre, die hier und da Denkanstöße liefert.
„Selbst Schuld“ ist 2024 im Hanser Verlag erschienen. Preis: 22,- Euro.
De Maart
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