Nach seinem in Cannes mit der Palme d’Or prämierten „Shoplifters“ öffneten sich für den Regisseur Türen. Retrospektiv wünscht man sich aber, er hätte diese nicht betreten. An seinen Film in französischer Sprache, mit u.a. Binoche, Deneuve und Ethan Hawke in den Hauptrollen, erinnert sich heute niemand und auch sein Aufenthalt in Südkorea war nur eine triefend kitschige Variation seines bisweilen größten Erfolges. In „Broker“ hat Bong Joon-hos langer Wegbegleiter Song Kang-ho die Jury in Cannes 2022 so überzeugt, dass sie ihm den Schauspielpreis übergab. Wie sehr man sich Hirokazu Koreeda wieder in seine Heimat Japan zurückgewünscht hat, wird einem erst jetzt mit seinem neuen Film „Monster“ klar.
Wer das titelgebende Monster sein dürfte, scheint nach den ersten knapp 40 Minuten klar zu sein. Die alleinerziehende Mutter Mugino bemerkt, dass irgendetwas mit ihrem Sohn Minato nicht in Ordnung ist. Ganz unabhängig davon, dass Minatos Vater/Muginos Mann erst kürzlich gestorben ist. Das Verhalten von Minato wird immer unberechenbarer und als er eines Tages mit einem riesigen blauen Fleck von der Schule kommt, erfährt sie, dass sein Lehrer ihm gegenüber die Hand erhoben hat. Sie konfrontiert die Schuldirektorin, den besagten Lehrer sowie die ganze Lehrerschaft und versucht herauszufinden, was eigentlich vor sich geht. Doch dann zieht ein Sturm auf und wir sehen wieder das in Flammen stehende Hochhaus, wie schon zu Beginn des Films, und die Geschichte wird wieder von vorne erzählt. Und dann noch ein drittes Mal. Immer wieder wechselt die Narrative den Blickwinkel, aus dem die Geschichte heraus erzählt wird.
Ein verschachteltes Drehbuch
„Monster“ versucht sich im formal-narrativen Triptychon, mit dem schon Akira Kurosawa mit „Rashomon“ eine Blaupause gesetzt hat und Ridley Scotts „The Last Duel“ kläglich scheiterte – ein und dieselbe Geschichte aus drei sehr gegensätzlichen Perspektiven zu erzählen. Am Ende von „Monster“ stellt man sich jedoch die Frage, ob es wirklich immer die gleiche Geschichte war. Koreeda interessiert es gar nicht, herauszufinden, wer wirklich Täter und wer Opfer ist. „Monster“ ist viel mysteriöser. Das liegt vorab in der Natur des sehr verschachtelten Drehbuchs und des Prinzips, dem sich dieses Schreiben verpflichtet hat. Das Drehbuch von „Monster“ stammt auch nicht, wie sonst üblich, aus der Feder des Regisseurs selbst, sondern von Yuji Sakamoto, der zwar fürs Kino, aber auch sehr viel fürs serielle Format ablieferte.
Opfer- und Täterrollen werden immer verschwommener, je länger der Film andauert. Jeder hat seine Gründe, sich zu verhalten, wie er oder sie sich verhält und jeder entledigt sich durch seine Motivationen und die damit einhergehenden Lügen seines weißen Unschuldshemdes. Es ist an uns, den Zuschauern, an den A-prioris der Figuren vorbeizuschauen und uns ein komplettes Bild aus den dramaturgischen Puzzleteilen zu basteln. „Monster“ ist weniger ein didaktisches Moralstück als eine filmische Oberfläche, an der jeder einzelne Zuschauer selbst mit sich ausmachen kann, inwieweit der Perspektivenwechsel in der Dramaturgie den Perspektivenwechsel in einem selbst und den Blick verändert und aus Schuldzuweisungen so etwas wie Verständnis entsteht. Je kompletter das Puzzle wird, desto mehr verliert der Film naturgebunden von seinem Mysterium. Nur um am Ende dann doch seinem Publikum den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Einige Filmbesprechungen nennen „Monster“ einen Film, der sehr viel über das zeitgenössische Japan erzählt, obwohl das Behandelte durchaus Universalität in sich trägt. Andere Reaktionen reden von einem zu Tränen rührenden Filmende. Mal davon abgesehen, wie die individuellen Tränendüsen auf diesen Film reagieren, ist es allemal so mysteriös wie sein Anfang. Und vor allem freut man sich wirklich, Hirokazu Koreeda wieder zu Hause anzutreffen.
„Monster“ von Hirokazu Kore-eda; mit u.a. Sakura Ando, Eita Nagayama und Soya Kurokawa, zu sehen im Ciné Utopia und den Regionalkinos von Cinextdoor
De Maart
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