Mittwoch12. November 2025

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KinoVon der Peripherie ins Herz Hollywoods: Die Laufbahn von Giorgos Lanthimos

Kino / Von der Peripherie ins Herz Hollywoods: Die Laufbahn von Giorgos Lanthimos
Bei einem Fototermin für die Gewinner der 80. Filmfestspiele von Venedig am 9. September 2023 im Lido von Venedig posiert Regisseur Giorgos Lanthimos mit dem Goldenen Löwen für den besten Film, den er für „Poor Things“ erhalten hat  Foto: AFP/Tiziana Fabi

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Subversiv, bizarr, verquer – immer wieder werden entsprechende Beschreibungen angebracht, um die Filmwelten des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos zu beschreiben; er gilt als einer der aufstrebenden und einzigartigsten Filmkünstler der Gegenwart. Gesellschaftliche Machtstrukturen sind wohl sein vordergründiges Thema; zum Kinostart seines neuen Films „Poor Things“ soll dieser Aspekt näher betrachtet werden. Es ist die Basis, von der aus letztlich alle seine Filme eine Leitlinie erkennbar werden lassen.

Ausgehend von ganz kleinen, hoch ambitionierten, subversiven und verstörenden Filmwerken hat sich Lanthimos konsequent zu einem publikumswirksamen, starträchtigen Filmemacher gewandelt, der sich ins Herz Hollywoods bewegt hat.

„Dogtooth“ oder: Das Meer ist ein Stuhl

Lanthimos’ kaum beachtete erste alleinige Regiearbeit „Kinetta“ (2005) kreiste noch besonders um die soziale Prekarität im Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise Griechenlands, aber es war sein nächster Film, „Dogooth“ (2009), ein ganz verstörendes Werk über die Machtstrukturen in einer Familie, das ihm die internationale Aufmerksamkeit bescherte. Darin schildert er die totalitären Erziehungsmechanismen eines Elternpaares, das ihre Kinder in den engen Grenzen des eigenen Familienanwesens erzieht, jeder Kontakt zur Außenwelt ist unterbunden. Isolation als ein Ausdruck totalitärer Kontrolle – ein Kontrollanspruch, der bis in die Sprache reicht. Die Kinder lernen, ihre Umwelt mit sprachlich verkehrten Ausdrücken zu besetzen: Das Meer wird da als Stuhl bezeichnet, ein Zombie ist eine gelbe Blume.

In „Dogtooth“ reflektiert Lanthimos die Sprache als Ausdruck von Macht, auf der die gesamte Erziehung fußen soll – die bizarren pädagogischen Praktiken der Eltern auf äußerst beklemmende Weise übersteigernd. Mit „Dogtooth“ waren die Vorbilder des griechischen Regisseurs unschwer auszumachen: Michael Haneke, Rainer Werner Fassbinder – und in Ansätzen bei Stanley Kubrick. Mit diesen Filmemachern teilt Lanthimos die Infragestellung von klassischen Familienmodellen, das verstörende Moment in Machtasymmetrien. Das offene Ende von „Dogtooth“ signalisiert ferner ein wichtiges Moment in Lanthimos‘ Filmschaffen: seine Filme platzieren mehr Fragen, als sie Antworten geben. Und ferner zeigt sein Frühwerk deutlich, dass Lanthimos – nicht zuletzt aufgrund der äußerst geringen Budgets – eine Filmsprache des Minimalismus entwickelte, die zu einem der Markenzeichen seiner Arbeiten wurde.

Von Hummern und heiligen Rehen: „The Lobster“ und „The Killing of a Sacred Deer“

Im Kontext einer weitestgehenden Abwesenheit einer Filmindustrie in Griechenland hat Lanthimos den Weg auf das internationale Filmparkett eingeschlagen. Mit seinen beiden nächsten Filmen ist der Regisseur zu größeren Budgets gelangt, ein namhafter Cast steht ihm zur Verfügung – die großen Festivalkanäle sind auf ihn aufmerksam geworden. Doch seinen Anspruch, Gesellschaftsbilder auf Machtstrukturen hin präzise zu zergliedern und zwischenmenschliche Beziehungen in all ihrer Komplexität offenzulegen, künstlerisch zu überhöhen, hat der Grieche nicht verloren: „The Lobster“ (2015) und „The Killing of a Sacred Deer“ (2017) sind beides Filme, die Fragen um ein zwischenmenschliches Miteinander stellen: Liebe, Individualität und Zweisamkeit als privates Glück strukturieren „The Lobster“ im Kontext einer Gesellschaft, die auf Kontrolle und Dominanz ausgerichtet ist.

In einer absurd-totalitären Hotelgesellschaft sollen sich Liebespaare bilden, ansonsten werden die Gäste als Strafe in Tiere verwandelt – das ist die skurrile Prämisse, von der der viel beachtete Film ausgeht. „The Killing of a Sacred Deer“ verlagert diese Struktur in das Privatleben einer amerikanischen Kernfamilie der Oberschicht. Der pater familias, Steve (Colin Farell), ein renommierter Herzchirurg, wird da, wie einst Agamemnon, von einem Fluch heimgesucht, gerade weil sein Kontrollwahn, und der damit verbundene Machtanspruch über Leben und Tod, seine Hybris ausmachen. In ihrer hochartifiziellen Inszenierung ist das Antitheater von Fassbinder diesen Filmen deutlich anzumerken, nicht Einfühlung steht im Vordergrund, sondern Verfremdung. Tief sind die Risse, hart die Brüche, die Lanthimos in diesen sehr komplexen und verqueren Beziehungsdramen aufschlüsselt. Keiner von beiden Filmen lässt sich je abschließend diskutieren, jede Antwort legt eine neue Frage offen. Das ist das Irritationsmoment, das Lanthimos in der Darstellung der Absurditäten gesellschaftlicher Machtansprüche freisetzt.

Mainstream und Konsens

Die Weiterführung des dekonstruktivistischen Ansatzes von Machtstrukturen ist „The Favourite“ – Lanthimos beschaut darin erstmals ein aristokratisches Matriarchat: Im England des angehenden 18. Jahrhunderts regiert Queen Anne (Olivia Coleman) – sie ist in ganz kränklicher Verfassung, die Spanischen Erbfolgekriege ermüden sie. Von da ausgehend untersucht Lanthimos die Beziehung der Königin zu deren Cousinen Sarah Churchill, Duchess von Marlborough (Rachel Weisz), und der Zofe Abigail Masham (Emma Stone), die beide um die Gunst der Königin wetteifern, sie wollen die „Favoritin“ werden, die Lieblingsdame am Hofe mit dem größten politischen Einfluss. „The Favourite“ ist ein Film über die Unmöglichkeiten eines Machtvakuums – ist die Macht erst einmal destabilisiert, dauert es nicht lange, bis sie wieder besetzt wird. In diesem absurden Kostümfilm hat der Adel seinen Glanz vollends verloren: Der Fäulnis der Macht gilt hier ein besonderes Augenmerk – in den sich wechselnden Frauenperspektiven drängt Lanthimos zur Erkenntnis, dass die Welt nicht zwangsläufig eine bessere ist, nur weil sie von Frauen regiert wird.

Die Ersetzung eines Patriarchats durch ein Matriarchat ist auch der narrative Bogen, den „Poor Things“ schlägt: Als eine Neuinterpretation von Mary Shelleys „Frankenstein“-Erzählung hin zu einem feministischen Bildungsroman angedacht, begleiten wir darin die neugeborene Bella (Emma Stone) – eine wortwörtliche „Kindfrau“, zusammengesetzt aus dem Gehirn eines Kleinkindes und einem erwachsenen Frauenkörper – das Resultat des akribischen Wissenschaftlers Baxter (Willem Dafoe). Die Anbindung an die Figuren, eine stärkere Markierung von Protagonist und Antagonist, der gesetzte Sympathiezuspruch – das sind deutlichere Transparenzansprüche, die freilich als künstlerisches Programm von „Poor Things“ gelesen werden können, demnach die Plakativität dieser Emanzipationsgeschichte gesellschaftliche Machtfragen sehr offenkundig provozierend auf die Oberfläche des Gezeigten setzt. Wie sich eine Frau in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu verhalten hat – in dieser Epoche scheint die Handlung angesiedelt zu sein –, was als weiblich und männlich gilt, all das verhandelt der Grieche in einem imposant-skurrilen Bilderreigen, der so die maskulinen Normen als verqueren Maßstab offenlegt, dafür aber noch nicht die Machtgewinnung der Frau am Ende affirmiert.

So engagiert und pompöser diese neueren Werke sind, so hat Lanthimos doch viel von der Radikalität, der Ambivalenz und der Subversion früherer Werke aufgegeben zugunsten einer breiten, publikumswirksamen Anbindung an das kommerzielle Hollywood-Kino. „Poor Things“ markiert nun mit „The Favourite“ einen deutlichen Einschnitt in der Karriere des Regisseurs. Die Filme wirken im direkten Vergleich zu dem Frühwerk geglättet, abfedernd, gefälliger; so mag sich auch der umfassend wohlwollende Zuspruch erklären, den der Grieche mit „Poor Things“ im Rahmen der Filmfestspiele in Venedig vergangenen Jahres erhielt. Die Auszeichnung mit dem „Goldenen Löwen“ als „bester Film“ des Wettbewerbs ist eine Würdigung, die Lanthimos viel früher hätte genießen dürfen. Augenfällig am Zeitgeist orientiert, funktioniert dieser Film als „crowd pleaser“ und dürfte noch bessere Chancen bei der noch kommerzieller ausgerichteten Oscar-Verleihung haben. In seinen stärkeren Momenten aber ist „Poor Things“ auch ein Bild der Idealvorstellung des Einzelnen in der Gesellschaft: frei, Grenzen und Regeln, besonders Benimmregeln, missachtend; darin liegt der tiefere Humanismus von Giorgos Lanthimos.