Sonntag21. Dezember 2025

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Neu im Mudam Über die Retrospektive zu Eleanor Antin, einer Schlüsselfigur der feministischen Kunst

Neu im Mudam  / Über die Retrospektive zu Eleanor Antin, einer Schlüsselfigur der feministischen Kunst
Das Mudam widmet ihrem Schaffen eine Retrospektive: die Künstlerin Eleanor Antin Foto: Courtesy Of the Artist

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Eleanor Antin ist eine Schlüsselfigur der konzeptuellen und feministischen Kunst. Ihr Werk umfasst Filme, Fotografien, Zeichnungen, Installationen, Performances und Literatur und gilt wegen seiner Vielschichtigkeit und der politischen sowie sozialen Fragestellungen als bahnbrechend. Ihre Arbeiten spiegeln nicht nur die Dynamik von Identität und Geschlecht, sondern auch tiefgreifende Auseinandersetzungen mit kulturellen Normen, Geschichtsverläufen und der Konstruktion von Macht. Das Mudam präsentiert ihr Werk nun in der ersten großen europäischen Retrospektive.

Auf mehr als 60 Jahre künstlerischen Schaffens kann die 1935 in New York geborene US-amerikanische Künstlerin Eleanor Antin zurückblicken. Begonnen hat sie in den 1960er Jahren, nach Ambitionen als Schriftstellerin, Schauspielerin und Tänzerin. In einem Interview mit The Paris Review verkündet sie 2017 begeistert ihre künstlerische Neuorientierung mit dem Aufkommen der Konzeptkunst. Die Idee hinter einem Kunstwerk bekommt nun einen eigenständigen künstlerischen Wert. Sie kann sogar wichtiger sein als ihre physische Ausführung; der kreative Prozess selbst wird zum Werk.

Das Werk „Blood of a Poet Box“ (1965-68) versammelt Blutproben von hundert Dichterkolleg:innen
Das Werk „Blood of a Poet Box“ (1965-68) versammelt Blutproben von hundert Dichterkolleg:innen Foto: Courtesy Ronald Feldman Fine Arts New York

Als Teil der innovativen New Yorker Dichterszene und verheiratet mit David Antin, Dichter, Kunstkritiker und Professor für Visuelle Kunst, verbindet sie in ihrem ersten Projekt die Themen Identität, Originalität und Genie, indem sie während nächtlicher Lesungen Blutproben von hundert Dichterkolleg:innen sammelt, sie auf Slides aufträgt und anschließend, mit Namen versehen, in eine grüne Box (Referenz an Marcel Duchamps „La Boîte verte“, 1934) einsortiert. Die so entstandene „Blood of a Poet Box“ (1965-68) repräsentiert für Antin diese Künstler:innen sowohl als homogene Klasse als auch als individuelle Porträts, darunter bekannte Namen wie Susan Sherman, Allen Ginsberg, Hans Magnus Enzensberger und Hannah Weiner. Persönliche Gegenstände von prägenden Weggefährtinnen wie der Performancekünstlerin Carolee Schneemann, der Tänzerin und Choreografin Yvonne Rainer, der Kunstkritikerin Amy Goldin und der Anthropologin Margaret Mead werden zu Skulpturen, die Antin in „Portraits of Eight New York Women“ (1970-71) zu scheinbar alltäglichen Szenen arrangiert. Begleitende Texte geben zwar keine Auskunft über die jeweiligen Objekte, sie fügen dem „Portrait“ aber eine weitere Dimension hinzu. Beide zusammen reflektieren Identität als komplex und enigmatisch, feiern die Energie der feministischen Avantgarde dieser Jahre und deren freundschaftliche Beziehungen.

Nach 54 Jahren im Mudam angekommen: ein Road Movie

„100 Boots“ (1971-73) basiert auf einer literarischen und filmischen Vorlage
„100 Boots“ (1971-73) basiert auf einer literarischen und filmischen Vorlage Copyright: Eleanor Antin/Quelle: Mudam

Eleanor Antin hat sich bei ihren Projekten häufig von Geschichte und Geschichten anregen lassen; so im Fall der „100 Boots“ (1971-73), inspiriert von einer literarischen Vorlage und einem darauf basierenden Stummfilm-Serial von 1914 über eine Abenteurerin („The Perils of Pauline“). Mit einhundert Paar Stiefeln reiste sie durch Kalifornien bis nach New York. Unterwegs arrangierte sie sie im Kreis, in einer Warteschlange oder auf den Ästen eines Baumes. Auf Schwarz-Weiß-Fotografien festgehalten, erstellte sie Postkarten und verschickte sie an bis zu tausend Menschen und Institutionen in aller Welt. Die Kombination aus Mail Art, Installation und Aktion erhielt Titel wie „100 Boots in the Market“, „100 Boots Parking“ oder „100 Boots on Vacation“. Nach dem „Besuch“ einiger Hotspots in New York endete die Reise im MoMA mit „100 Boots enter the Museum“, wo sie offiziell präsentiert wurden. Mit diesem Projekt hinterfragte Antin die Praxis, die Ausstellung von Kunst auf Museen und Galerien zu beschränken. Ihre Intention zielt darauf ab, Kunst aus der Enge der einem privilegierten Publikum vorbehaltenen Räume zu befreien und den Rezipient:innenkreis zu erweitern. Im Mudam führt die etwas absurd anmutende Prozession der Stiefel durch die Grand Hall und weiter hinab zum Foyer.

Dekonstruktion von Taxonomien

Patriarchale und koloniale Klassifizierungen gehören ebenfalls zu jenen Themen, mit denen sie sich auseinandersetzt. In der Serie „Carving: A Traditional Sculpture“ (1972) und „Carving: 45 Years Later“ kritisiert sie gängige Schönheitsideale, die den weiblichen Körper mit Macht unterwerfen wollen. Hierbei lehnt Antin sich an die Arbeitsweise griechischer Bildhauer an, die die vier Seiten eines Blocks nacheinander bearbeiten und eine dünne Schicht nach der anderen abtragen, sodass neue Formen entstehen. Sie fotografiert ihren nackten Körper über längere Zeiträume im Rahmen einer strikten Diät jeden Morgen in vier Positionen, von vorn, von hinten und von den Seiten. Bewusst setzt sie den eigenen Körper – die zu bearbeitende Skulptur – gesellschaftlich tief verwurzelten Klassifikationslogiken aus und unterwandert diese zugleich. Das Projekt gipfelt 2017 in einem triumphalen Akt der Selbstermächtigung: Ein übergroßes Selbstporträt zeigt die nun gealterte Frau, in Unterwäsche und mit rotem Cape, im Stil einer Superheldin.

Die Ausstellung präsentiert Antins kunstvolles Spiel mit Persönlichkeiten, Fiktion und Realität auf faszinierende Weise; ihr ist ein großes Interesse (…) zu wünschen

In ihrer Closed-Circuit-Videoinstallation „Representational Painting“ (1971) konfrontiert sich Antin mit dem eigenen Abbild, das sie beginnend mit der Gesichtspflege über das Auftragen von Make-up bis zur Wahl der Garderobe verändert. Da sie die Synchronität ihrer Handlung mit deren Abbild auf dem Monitor jedoch nicht seitenverkehrt wie in einem Spiegel, sondern achsensymmetrisch wahrnimmt, tritt eine Irritation ein. Folglich erscheint so manche Geste während des Schminkens unbeholfen bis komisch. Es entsteht ein Bild für die Verunsicherung der Frau, die nach den „richtigen“ Mitteln sucht, um eine „passende“ Darstellung von sich selbst zu finden. Mit der Inszenierung von Geschlechterrollen und Alter knüpft Antin an feministische Kritik an stereotypen Bildern von Frauenfiguren im traditionellen narrativen Kino an – ein Diskurs, der bis heute unter dem Begriff des Male Gaze geführt wird.

Die vielen Gesichter der Eleanor Antin

Schlüsselwerk von Antin: „The King Of Solana Beach“ (1974-75)
Schlüsselwerk von Antin: „The King Of Solana Beach“ (1974-75) Foto: Courtesy Of the Artist/Richard Saltoun 

Zu ihren Schlüsselwerken gehören „The King of Solana Beach“ (1972) und die „Historical Takes“ (2001-08). Das Thema Macht inszeniert sie hier in Rollenspielen, mal provokant, mal humorvoll. So maskiert sie sich unbefangen als Mann mit großem Hut, Bart und Mantel und mimt ihr Alter Ego The King, spaziert durch Solana Beach und registriert die Reaktionen der Bürgerschaft, die von Erschrecken und Abwehr bis zu freundlichem Entgegenkommen und Amüsiertheit reichen. Mit ihrer zierlichen Figur konterkariert sie historische und gegenwärtige Repräsentationen von Herrschaft; gleichzeitig übt ihre fotografische Serie Kritik an der Vernichtung natürlicher Ressourcen und lokaler Bodenspekulationen.

Die „Historical Takes“ zeigen, wie materieller Überfluss und Ausbeutung Kulturen vernichten und Gewalt und Zerstörung bringen. Großformatige Bilder und filmische Szenen gestaltet sie in üppiger Farbigkeit mit einem großen Stab an Protagonist:innen, die das antike Rom auf hollywoodeske Art wiederbeleben. Andere fiktionale Personen sind die Ballerina Eleonora Antinova oder die Krankenschwester Eleanor Nightingale, inspiriert von Florence Nightingale, der sie ein multimediales Ensemble aus Fotografien, großen Pappfiguren und Skulpturen widmet.

Die Ausstellung präsentiert Antins kunstvolles Spiel mit Persönlichkeiten, Fiktion und Realität auf faszinierende Weise; ihr ist ein großes Interesse an dem Œuvre dieser großen Künstlerin zu wünschen. Die Schau ist noch bis zum 8. Februar 2026 geöffnet.