Kino„The heart wants what it wants“: Die Neuerscheinungen der Woche

Kino / „The heart wants what it wants“: Die Neuerscheinungen der Woche
Szenenbild aus „L’été dernier“ @Pyramide Film

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Während es in Catherine Breillats „L’été dernier“ um Überschreitungen sozialer Normen geht, gilt „Les filles d’Olfa“ von Kaouther Ben Hania als Sprachrohr für Menschen, die bis dato wenig bis überhaupt nicht zu Wort kamen. Zwei ambivalente Filme, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast

„L’été dernier“ von Catherine Breillat, mit u.a. Léa Drucker, Samuel Kircher und Olivier Rabourdin. Zu sehen im Ciné Utopia.

Sich einem Menschen hingezogen fühlen, ist oft das überwältigendste Gefühl im Leben. Wenn dann diese Hingezogenheit auf Gegenseitigkeit stößt, ist die Sache eigentlich perfekt. Eigentlich. Denn diese Übereinstimmung von Gefühlen und Absichten hängt nicht exklusiv von der klassischen Ansage „Ich mag dich, du magst mich“, sondern auch von anderen Faktoren ab. Den sogenannten gesellschaftlichen Konventionen. Die französische Filmemacherin Catherine Breillat baut ihre Filmografie exklusiv auf dem transgressiven Akt auf, der diese Konventionen durchbricht. Und das ist bei „L’été dernier“, ihrer erster Regiearbeit seit zehn Jahren, nicht anders. Die Transgression im Mittelpunkt von Breillats neuem Film ist nämlich nicht von schlechten Eltern.

Anne ist allem Anschein nach eine erfolgreiche Anwältin. Ihr Pierre ist ein liebevoller und gutmütiger Ehemann, der jedoch von Berufs wegen viel unterwegs ist. Zusammen haben sie zwei Adoptivtöchter und leben sorgenfrei in ihrem bourgeoisen Alltag. Dieser Alltag wird jedoch mit der Ankunft von Théo, Pierres pubertierendem Sohn aus erster Ehe, auf eine harte Probe gestellt. Der 17-Jährige ist in Genf, wo er mit seiner Mutter aufgewachsen ist, mit seinem dem Alter entsprechenden unberechenbaren Verhalten aufgefallen und es wurde entschieden, ihn eine Zeit lang bei seinem Vater leben zu lassen. Nach anfänglich zögerlichen Kommunikationsversuchen zwischen Teen und Stiefmama kommen sich die beiden näher. Sehr viel näher.

„The heart wants what it wants. There’s no logic to those things“: Das gab Woody Allen Anfang der 1990er zu verstehen, als er die Beziehung zu Soon-Yi Previn, Mia Farrows Adoptivtochter, bekannt gab. Er war damals 57, sie 22. Der Altersunterschied der beiden Charaktere in „L’été dernier“ ist in etwa der gleiche. Nur: Théo ist minderjährig. The heart wants what it wants … Ob bei Breillat alles Resultat einer Herzensangelegenheit ist, bleibt jedoch auszudiskutieren. Dass das Verhältnis mehr als problematisch ist, steht außer Frage. Catherine Breillat schert sich auf einen ersten Blick wenig darum, zu kommentieren oder zu verurteilen. Nicht so, wie „Queen of Hearts“ von May el-Toukhy, der dänische Spielfilm von 2019, auf dem Breillats Film basiert. Natürlich interessiert es die Filmemacherin, ihr Publikum mit seinem eigenen Moralverständnis zu konfrontieren. Und das schon immer. Aber dieser Affekt ist in diesem Fall kein reißerischer, der nur Mittel zum Zweck ist. Breillat inszeniert in allererster Linie Menschen und Figuren. Und diese Figuren sind ambivalent. Allesamt. Nicht ihrer Taten wegen, sondern ihrer Absichten und Motivationen wegen, die sie zu den Taten führen. Diese Ambivalenz gilt für jeden. Nicht nur für Anne und Théo, sondern auch für Annes Schwester und ihren Mann. Bis zum Filmende. Vor allem konzentriert sich die Regie von Breillat – mithilfe der Kamera Jeanne Lapoiries – auf Anne. Die Figur, die Frau, die Anwältin, die sich in ihrem Beruf u.a. für die Rechte junger Frauen einsetzt, die in ihrer Vergangenheit Opfer von Missbrauch wurden. Alleine die Eröffnungsszene wäre schon einen Text in der Länge dieses ganzen Textes wert. In jener Szene fragt sie mit Eiseskälte und einem stechenden Blick eine junge Frau über ihr Sexualleben aus und wir, das Publikum, bilden uns eine Meinung zu ihr. Eine Meinung, die binnen 60 Sekunden auf den Kopf gestellt wird. Und so handhabt der Film andauernd seine Dramaturgie und seine Charakterzeichnung.

Die Kälte im Blick von Anne, im Blick einer majestätischen Léa Drucker, schwangt über in eine Wärme, nur um diese Kälte im letzten Drittel des Film mit aller Wucht wieder einzunehmen. Der gesellschaftliche Kontext ist bei allem nicht von der Hand zu weisen. Ist Anne Opfer der Bourgeoisie und sieht in Théo einen Gleichgesinnten, mit dem sie zusammen auszubrechen versucht? Oder erhebt sie sich aus ihrem bourgeoisen Lebensennui heraus Anspruch auf den jungen Männerkörper und nutzt ihn aus? Und kann von einem Machtgefälle überhaupt die Rede sein, da doch Théo ihr Avancen macht? „L’été dernier“ ist nur auf dem Papier der Film einer 75-Jährigen, die seit einem Jahrzehnt nichts gedreht hat. In Wirklichkeit ist Catherine Breillat auf der Höhe ihrer Kunst und benutz das Kino selbst als ultimative transgressive Waffe, mit der sie versucht, die Welt zu verstehen.

Das Leben nach der Revolution

„Les filles d’Olfa“ von Kaouther Ben Hania, mit u.a. Olfa Hamrouni, Hend Sabry und Majd Mastoura. Zu sehen im Ciné Utopia.

In ihrem vorherigen Film „The Man Who Sold His Skin“ thematisierte die tunesische Filmemacherin Kaouther Ben Hania den Menschen als (Kunst)Ware und basierte diesen auf Wim Delvoyes Kunstwerk Tim, in dem er den Rücken eines Mannes komplett tätowieren ließ und diesen in Museen sitzen ließ. Ben Hania spannte diesen Startpunkt zu einem Kommentar über Globalisierung und den Stellenwert der Flüchtlinge weiter. Drei Jahre später landete die Regisseurin mit ihrem Hybridfilm „Les filles d’Olfa“ im gleichen Hauptwettbewerb der Filmfestspiele von Cannes, in dem man auch z.B. „L’été dernier“ von Catherine Breillat wiederfinden konnte. Beide Filme gingen beim offiziellen Palmarès jedoch leer aus.

Hybridfilm, weil der Film von Anfang an zwischen Dokumentarkino und Spielfilm hin- und herschwankt. Es geht um die titelgebende Olfa und ihre Töchter. Vier sind es derer an der Zahl, doch die zwei ältesten sind verschwunden. Ob tot oder lebendig, das weiß man nicht. Verschwunden. Um diese Leere, die diese verschwundenen Töchter hinterlassen haben, castet die Regisseurin Schauspielerinnen, um in die Rollen ebendieser zu schlüpfen. Zusammen mit Olfa und ihren echten und gecasteten Töchtern versucht Kaouther Ben Hania nachzuverfolgen, wie es zu diesem Verschwinden kommen konnte.

„Les filles d’Olfa“ gibt Menschen ein Sprachrohr, die bis dato wenig bis überhaupt nicht zu Wort kamen: zwei Generationen von Tunesierinnen, die vom Leben vor und nach dem Arabischen Frühling berichten. Und zu großen Überraschung des westlichen Publikums kommt die Ansage, dass das Leben unter den Islamisten nach der Revolution nuancierter betrachtet werden muss. Vor allem, wenn durch die Augen der jungen Generation geschaut. Jetzt weiter ausführen, käme einem Plotspoiler gleich. Der Familie die dramaturgischen Zügel zu überlassen, auch in Hinsicht auf die Reenactments verschiedener Lebenssituationen mit den Schauspielerinnen, ist ein überaus spannendes Mittel, „oral history“ zu machen. Das führt über die Länge des ganzen Films zu ergreifenden kathartischen Momenten – wie z.B. zu Beginn, wenn sich Mutter und die Schauspielerinnen in den Rollen der vermissten Töchter das erste Mal begegnen –, hat aber in der Hälfte eine Tendenz, einen formell didaktisch und repetitiven Gestus zu bekommen. Was der Geschichte der Familie nicht gerecht wird. Das Ende ist dagegen jedoch ernüchternd und erdrückend. „Les filles d’Olfa“ ist ein engagierter Wurf Kino, den es so in dieser Form nicht allzu oft gibt.

Zwischen Dokumentarkino und Spielfilm: „Les filles d’Olfa“
Zwischen Dokumentarkino und Spielfilm: „Les filles d’Olfa“ @Tanit Films