Mittwoch29. Oktober 2025

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Mütter, Väter, Mütter

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Zwei Romane erzählen auf intime Art und Weise, was in Familien alles so passiert: Luise Maiers "Dass wir uns haben" lässt den Leser die Gewalt spüren, welcher die Charaktere ausgesetzt sind. Auch Michael Stavarics "Gotland" fesselt den Leser – bis zum furiosen Ende.

Zwei Romane erzählen auf intime Art und Weise, was in Familien alles so passiert: Luise Maiers „Dass wir uns haben“ lässt den Leser die Gewalt spüren, welcher die Charaktere ausgesetzt sind. Auch Michael Stavarics „Gotland“ fesselt den Leser – bis zum furiosen Ende.

Von Roland Mischke

Seit dem Großroman „Anna Karenina“ wissen wir, dass alle glücklichen Familien ziemlich gleich sind, jede unglückliche Familie ist aber auf ganz eigene Weise unglücklich. Auch in unserer Zeit, mehr als hundert Jahre nach Tolstoi, wird das in der Literatur immer wieder bestätigt. Zum Beispiel von Michael Stavaric in seinem Buch „Gotland“. Und auch von der jungen österreichischen Autorin Luise Maier, deren Debütroman „Dass wir uns haben“ grausam ist. Dennoch will man ihn zu Ende lesen, hat man erst angefangen.

Leser spürt die Gewalt

Vater, Mutter, Tochter, Sohn in einem Haus mit Holzofen und ohne Bad in einer Kleinstadt. Der Vater, ein bärtiger Riese wie ein Bär, hat sein Mathematikstudium versemmelt, er schlägt sich irgendwie durch und kocht für die Familie. Die Mutter malt, bis Morbus Crohn sie regelrecht lahmlegt und sie sich kaum noch um ihre Kinder kümmern kann. Er droht, sie kuscht, auch die Kinder sind Kränkungen und Verletzungen ausgesetzt. Die Mechanik der Gewalt wird emotionslos und dennoch so intensiv beschrieben, dass Leser sie auch körperlich spüren.

Die Familie ist gelähmt durch Gewalt und Schweigen. Vor allem der Sohn, der Jüngste, wird regelmäßig gefesselt und mit Prügeln gezüchtigt. Dabei ist der Vater schwach, weiß die Ich-Erzählerin. Er prügelt seinen Nachwuchs, weil er es im Leben zu nichts gebracht hat. Die Gewalt ist ein Kreislauf: Schläge, Stiche, Schnitte, nur die Tochter verschont der Vater.

Dennoch gibt es in dieser Familie – kaum zu glauben – Momente des Glücks. Als sie mit einer Menschenkette ihr Haus zusammenhält mit Sandsäcken vor einer Flut. Als der väterliche Natursammler der Tochter einen toten Frosch schenkt. Doch diese Kindheit wird nicht mehr zu retten sein. Die Tochter wehrt sich, schreit. „Als keine Stimme mehr kam, ließ ich mich in die harte Federung des Kanapees fallen und schlug das Handtuch vor mein Gesicht. Dort blieb ich liegen, bis mein Bruder kam und mich in den Arm nahm“, schreibt Maier. Ein starkes Buch über individuelles Unglück.

Spannung bis zum furiosen Schluss

Auch Stavaric schildert als Ich-Erzähler in „Gotland“ eine psychotische Jugend mit einer alleinerziehenden Mutter, einer Zahnärztin, in Wien. Im Gegensatz zu Maier betont er die Verrücktheit nahestehender Menschen, fiktive Abenteuer des Jungen, der sich damit befreien will aus der quälenden symbiotischen Beziehung mit der Mutter. Wir erfahren in dem Roman viel von der Verzweiflung des verlorenen Kindes.

Mutter und Kind haben ein inzestuöses Verhältnis, der Vater ist eine Leerstelle. Der pubertierende Sohn will nicht, was geschieht, schleicht aber nachts ins Schlafzimmer der Mutter, um ihren Intimbereich zu betrachten. Er hortet ihre gebrauchten Tampons und gibt der streng katholischen Frau einen gottähnlichen Status.

Der poetische, aber bizarre Roman heißt „Gotland“, weil der Sohn auf der Ostseeinsel Gotland, dem Sehnsuchtsort der Mutter, gezeugt wurde. Als Erwachsener zieht es ihn magisch in den zerklüfteten Bereich der schwedischen Landschaft. Bis zum Schluss allerdings hält der Autor seine Leser in Spannung – er verrät nicht, was „wahr“ ist und was Einbildung. Vieles befremdet, trotzdem liest man dieses beeindruckende Buch über die Verzweiflung eines Kindes. Die Schlussszene ist dann furios.

Bücher über Verzweiflung

Mütter, Väter, Mütter. In beiden Romanen wird ausgelotet, was Elternschaft auch sein kann. Teilweise kommt das gruselig daher, es geht um Scham und Mitleid, Wut und Angst – und das immer als Gleichgewicht des Schreckens. Vielleicht nicht durchweg große Literatur, aber Bücher über Verzweiflung, stark im Erzählen.

Luise Maier: „Dass wir uns haben“, Wallstein-Verlag, Göttingen, 150 S., 18 Euro. Michael Stavaric: „Gotland“, Luchterhand-Verlag, München, 352 S., 20,60 Euro.

Zum Autor

Roland Mischke wurde als Kind vertriebener Schlesier in Chemnitz geboren. Er studierte Evangelische Theologie und Germanistik in Berlin, volontierte bei der FAZ und arbeitete danach zwölf Jahre vor allem im Feuilleton dieser Zeitung. Danach gründete er mit Partnern einen Buchverlag und war nebenher als freier Journalist für Zeitungen und Zeitschriften im gesamten deutschsprachigen Raum tätig.

Sein Themenspektrum erstreckt sich von aktuellen Kulturberichten – vor allem aus Berlin – über Kommentare zum Kulturbetrieb bis zu Lifestyle-Berichten und Geschichten über politische und gesellschaftliche Hintergründe und Entwicklungen. Zudem hat er einige Sachbücher geschrieben.