Kino„May December“ von Todd Haynes : It’s What Grown-Ups Do

Kino / „May December“ von Todd Haynes : It’s What Grown-Ups Do
Julianne Moore und Natalie Portman (r.), die Regisseur Haynes das jetzt Oscar-nominierte Drehbuch von Samy Burch nahelegte Foto: François Duhamel

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Jedes Töpfchen findet laut Volksmund sein Deckelchen. Wenn das Töpfchen aber eine Mittdreißigerin und Familienfrau ist, die ein Deckelchen in der Form ihres 13-jährigen Schülers findet, dann stößt auch der Volksmund an seine moralischen Grenzen. Bühne frei für Julianne Moore und Natalie Portman, die sich mit Regisseur Todd Haynes einen Heidenspaß daraus machen, in „May December“ menschliche Abgründe genüsslich zu durchqueren. Unterlegt mit Musik von Michel Legrand.

Das besagte Küchenutensilien-Gespann Gracie und Joe trifft die Schauspielerin Elizabeth in Savannah im US-Bundesstaat Georgia an. Die immergrüne Landschaft des amerikanischen Südens ist aber auch eine trügerische. Sümpfe sind überall anzufinden und historisch gesehen versteckt sich hinter jeder Fassade der Herrenhäuser die beschämende Geburtsstunde der Vereinigten Staaten. Elizabeth besucht das Paar, weil sie kurz vor dem Drehbeginn eines Films steht, der ihre tumultuöse Liebesgeschichte erzählt. Gracies Affäre mit dem Jungen flog vor 20 Jahren auf, sie landete im Gefängnis und gebar dort ihr erstes gemeinsames Kind. Der Film, vor allem das Paar im Zentrum, basiert auf einem stark mediatisierten Fall aus den amerikanischen 1990ern. Heute sind Gracie und Joe jedoch fester Bestandteil der Gemeinschaft – Torten backen, Barbecues schmeißen, einfach „American way of life“. „But time flies“. Ihre gemeinsamen Kinder stehen kurz vor dem Abflug in Richtung Universität. Elizabeth begegnet diesen Menschen und versucht, mit Block und Stift bewaffnet, die Mechanismen und Manierismen von Gracie einzufangen. Mit dem Ziel, sie wahrhaftig und treu beim anstehenden Filmdreh zu personifizieren.

Apropos Personifikation. Von Todd Haynes’ neuem Film „May December“ ist der Weg nicht weit zu Alma und Elisabet Vogler aus Ingmar Bergmans „Persona“. Die Spiegelung der schwedischen Figuren in den amerikanischen ist so offensichtlich wie die Spiegelungen unter den Figuren in den beiden Filmen. Ohne zu viel vorwegzunehmen, ist der neue abendfüllende Spielfilm des Amerikaners – er wurde dafür zum vierten Mal in seiner Karriere in den Wettbewerb der vergangenen Filmfestspiele von Cannes eingeladen – ein Sammelsurium an Spiegeln und Spiegelbildern. Und eine neue Spielwiese für das Trio im Mittelpunkt. Für Julianne Moore, die lange Weggefährtin des Filmemachers, die sich hier eine der ambivalentesten Rollen ihrer Karriere gönnt – ihr Lispeln alleine ist den Eintritt wert; ganz großes Kino! –, für Natalie Portman, die Haynes das jetzt Oscar-nominierte Drehbuch von Samy Burch nahelegte (noch eine Spiegelung), und für den relativen Newcomer Charles Melton. Sein Joe ist ein unbestimmtes Wesen, ein Kind in einem erwachsenen Körper, ein Ping-Pong-Ball im Spiel zwischen Moore und Portman, die sich gegenseitig grenzwertige Matchbälle zuspielen. Wer die Überhand dieser unendlichen Partie schlussendlich jedoch gewinnt …

Michel Legrand, wie eine Fuge

„May December“ ist auf einer ersten Ebene natürlich ein farbenfrohes – pastellfarbenes, um genau zu sein – Melodrama, in dem der Geist von Douglas Sirk, wie immer bei Haynes, nie allzu weit weg ist und in dem früher oder später diverse Fassaden abgerissen werden. Und mal davon abgesehen, dass der Film einen spannenderen und weniger einfach fassbaren feministischen Ansatz hat, als etwa „Barbie“ oder „Poor Things“, ist es auch ein Film über Repräsentation, Appropriation, Manipulation und Vampirismus. Ein durch und durch camper Bergman-Film, vor dem Hintergrund der Pädokriminalität. Und Haynes versteckt all das in einem auf den ersten Blick sehr klassisch inszenierten Film.

Die für melomane Cinephile spektakulärste künstlerische Entscheidung in diesem Film ist aber, Michel Legrands Titelthema aus Joseph Loseys „The Go-Between“ (1971) wie eine Fuge immer wieder spielen zu lassen. Die wenigen Takte Musik dieses für den Film leicht adaptierten Themas sind so ein Vibe, dass sie jeden Aspekt des Film – die Landschaften, die Interieurs, die Schauspieler – färben und leiten. Einer der größten „needle drops“ der letzten Jahre. „May December“ – hinter dem Titel versteckt sich der englische Ausdruck für eine Beziehung zwischen einer jungen und einer wesentlich älteren Person – ist trotz seines tiefenpsychologischen und pädokriminellen Anschlags eine astreine Komödie. Wenn auch eine pechschwarze und durch und durch ironische Komödie. In dieser Hinsicht wird einem das Dénouement noch lange herzhaft dreckig in Erinnerung bleiben. Schade nur, dass der Oscar-Zug fast komplett an diesem Film vorbeigegangen ist. 

„May December“ von Todd Haynes, mit u.a. Julianne Moore, Natalie Portman und Charles Melton, zu sehen im Ciné Utopia