Märchen schreibt die Zeit

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Anne Schaaf hat sich die Musical-Version von "Die Schöne und das Biest" angesehen - und ist nicht wirklich begeistert.

Der luxemburgische Spruch „Schéi vu wäit a wäit vu schéin“ scheint wie gemacht für die Musicalproduktion „Die Schöne und das Biest“. Denn diese besticht durch ihre pompöse Verpackung, der Inhalt ist jedoch bei näherer Betrachtung etwas unschön.

Aus der deutschen Version des Films „Die Schöne und das Biest“ (anno 1991) bleibt mindestens eine Liedzeile unvergessen, nämlich „Märchen schreibt die Zeit“. Man könnte diesen Satz so verstehen, dass jede Zeit ihre eigenen Märchen schafft. Nun ist es bei dieser Fabel-ähnlichen Geschichte aber so, dass die angeblichen Originale – denn die Interpretationen des französischen Volksmärchens werden einerseits auf Gabrielle-Suzanne de Villeneuve und anderseits Jeanne-Marie Leprince de Beaumont zurückgeführt – mehr als 200 Jahre alt sind. Zudem finden sich auch Motive wieder, wie jene des sogenannten „Wolfsmenschen“, welche noch früher in der Historie zu verorten sind.

In der Disney-Interpretation sucht man jedoch Neues oder Zeitgemäßes vergebens. Weder bei die „Schöne und das Biest“ noch bei anderen früheren Filmen aus dem Hause Disney stehen moderne Denkansätze im Vordergrund. Viele unter ihnen charakterisieren sich vielmehr durch konservative Werte und Geschlechterstereotypen.

Ebenso weisen die bisher produzierten Disneyfilme überwiegend eine verzerrte Darstellung von Schönheitsidealen auf. Eine Varianz des Körperbildes ist quasi unauffindbar, allen voran in Bezug auf Frauen. Heldinnen, wenn es denn überhaupt welche gibt, sind stets schlank und in den meisten Filmen weiß. Auch paaren sich nicht selten bestimmte soziale Verhältnisse mit immergleichen Erscheinungsmerkmalen. So sind oft ärmere Charaktere dick, hässlich und haben eine andere Nationalität als die höher gestellten im Film.

Trauma nach „Alice im Wunderland“

Unproblematisch ist dies keineswegs, denn die Filme, welche bis zu seinem Tod 1966 unter der Federführung des Antikommunisten und Anhängers der republikanischen Partei Walter Elias Disney entstanden, haben viele Kinder und junge Menschen begleitet und „gebildet“.
Wenn auch der fragwürdige Pionier starb, bevor weitere Disneywerke den Filmmarkt in den 90ern überschwemmten, so hallte sein wertekonservatives Weltbild in den Darstellungen nach und prägte nicht zuletzt auch die heutige Generation Y. Diese, nun im postpubertären Stadium angekommene, Gruppe von jungen Menschen kann sich heute auf ein Neues mit den damals dargebotenen Inhalten auseinandersetzen.

Bei manchen gestaltet sich dies mithilfe eines Joints, während „Alice im Wunderland“ geschaut und das Sofa danach traumatisiert verlassen wird. Dann besteht aber auch die Möglichkeit, in Nostalgie schwelgend einen stolzen Batzen Geld für ein Musical auszugeben, das die alten Inhalte nicht nur lauwarm, sondern fast haargenau wiedergibt. Und genau hier liegt der Zeichentrickhund begraben.

Die Begeisterung für die deutschsprachige Inszenierung des Budapester Operetten- und Musicaltheaters, welche seit 2011 europaweit in etlichen namhaften Häusern zu sehen war, bricht nicht ab und findet im Januar in der Escher Rockhal ein zeitweiliges Zuhause. Sie bietet aber, auch 26 Jahre nach der Veröffentlichung des Disneyfilms, nichts Neues. Obwohl die Hauptbotschaft der Musicalproduktion angeblich lauten soll, dass man mit Liebe (fast) alle Probleme überwinden kann, so geht dieser fromme Wunsch doch nicht so ganz in Erfüllung. Unterschiedlichste Problematiken scheinen durch die Jahrhunderte hindurch mitgeschleppt worden zu sein, ohne dass man auf die Idee gekommen wäre, sie anders zu vermitteln.

Ganz schön hässlich

Da wäre zum Beispiel die Tatsache, dass die weibliche Hauptfigur Belle in ihrem eigenen Dorf verstoßen wird, weil sie gerne liest. Dieser Umstand wird zu keinem Moment kritisiert oder infrage gestellt. Die einzige positive Resonanz erfährt sie zu einem späteren Zeitpunkt durch das Biest, das ihr Zugang zu seiner großen Bibliothek gewährt. Dieses Wesen ist jedoch wie Belle, eine Art „Ausgestoßener“. Heute würde man wahrscheinlich behaupten, es handele sich um eine Romanze zwischen zwei nerdigen, nicht populistisch veranlagten und dafür ausgegrenzten Gutmenschen. Der positive Nutzen aus dem Lesen, wie beispielsweise die Bildung, die Belle durch die Bücher erfährt, wird weder betont noch irgendwie ansatzweise weitergedacht.

Ebenso wird zu keinem Moment das Männlichkeitsbild im Allgemeinen, allen voran die Figur des Gaston, hinterfragt. Dieser überschreitet immer wieder persönliche Grenzen, kommt Belle zu nah, obwohl diese klare unmissverständliche Ablehnung ausdrückt. Gegen Ende des Märchens erpresst er sie sogar, indem er sagt, sie müsse ihn heiraten, damit er die Einweisung ihres Vaters in die Psychiatrie abwendet. Das Einverständnis Belles tut zu keinem Moment etwas zur Sache. Überspitzt formuliert könnte man annehmen, dass Zwangsheiraten je nach Aufmachung, also im Gewand der eigenen kulturellen Gewohnheiten, akzeptabler sind als andere.

Menschen, die anders sind, haben in Disney-Stories zwar fast immer ihren Platz, aber die Rolle, die ihnen zugewiesen wird, ist häufig eine nebensächliche, sie selbst ins Lächerliche ziehende. Allein schon vom Namen her passend als Beispiel ist der Gehilfe Gastons, nämlich Lefou. Im Film wie auch in der ungarischen Musicalproduktion ist er kleiner und weniger stark als Gaston. Lefou wird wie Dreck behandelt und nicht ernst genommen. Regelmäßig erhält er im Stück Schläge auf den Hinterkopf. Gleichzeitig ist es aber er, der die Fäden zieht für seinen großen „Freund“.

Nicht nur in Zeiten von Essstörungen und Bodyshaming bekommt allein schon der Titel „Die Schöne und das Biest“ einen Beigeschmack. Die Definitionen von „schön“ und „hässlich“ werden nicht diskutiert, geschweige denn erhalten sie einen neuen Rahmen. Die Produktion hält an althergebrachten Klischees fest und wagt nicht, neue Akzente zu setzen. Belle hat etwas unglaublich Glattgelecktes und auch die Figur des Biests verliert sich in Stereotypen. Wenn die Liebe denn so viel zählt, so mutet es dann doch ironisch an, dass der Prinz nicht so bleiben kann, wie er ist, nachdem Belle ihm gesteht, dass sie ihn liebt. Auch 2017 ist es scheinbar unausweichlich, dass die Liebe aus ihm einen 0815-Kalender-Boy macht.

Gefährliche Zusatzstoffe

Was an dieser Produktion schlichtweg enttäuscht, ist die Tatsache, dass vieles nicht weitergedacht und stattdessen unreflektiert im Raum stehen gelassen wird. Wenn denn Elemente ergänzt werden, so dann eher auf der Ebene von erschreckenden Schenkelklopferwitzen, die so weder in den Originalen noch im Disneyfilm wiederzufinden sind. Das ohnehin übertrieben dargestellte, hypersexualisierte Miteinander zwischen dem Kerzenständer Lumière und dem weiblichen Staubwedel Plumette nimmt viel Platz ein und mündet in einer Szene in der Aussage: „Mein Docht brennt.“ Dies gereicht nicht zur Entrüstung, aber es ist schnöde, langweilig und bewegt sich auf Mario-Barth-Niveau. Ein Mehrwert entsteht durch solche Ergänzungen beileibe nicht, vor allem nicht für die im Publikum anwesenden Kinder. Auch ist einer der Running Gags, dass die Uhr, Herr von Unruh, sich immer angeekelt zurückzieht, wenn Lumière ihn vor Freude überschäumend küssen oder umarmen möchte. Warum gerade solche Haltungen betont werden müssen, bleibt schleierhaft. Nachdem das Biest verletzt und in der Folge von Belle verarztet wird, jammert es in sehr hohen Tönen, quiekt förmlich, obwohl es im Rest des Stücks eine sehr tiefe, durch Spezialeffekte verstärkte, Stimme hat. Sobald also eine eventuelle vom Stereotyp der Männlichkeit abweichende Verletzlichkeit mit ins Spiel kommt, wird das Ganze ins Lächerliche gezogen.

All dies ist bedenklich, aber auch bedauerlich. Denn die Produktion, an der mehr als 100 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beteiligt sind, 21 Musiker live spielen und 41 Darsteller mitwirken, hat nicht unbedingt schlechte Ausgangsbedingungen. Die Solisten genossen zu großen Teilen eine klassische Ausbildung und bewegen sich stimmlich auf einem sehr hohen Niveau. Die Erstbesetzung der Hauptdarsteller, also Sándor Barkóczi sowie Kitti Jenes, verstehen es, neben vielen anderen Sängern zu überzeugen.

Auch könnte man sich während des gesamten Stücks alleine am Bühnenbild sattsehen. Dieses setzt sich nicht nur aus einer verstellbaren Drehbühne zusammen, sondern je nach Schauplatz verwandelt sich die gesamte Szenerie in Handumdrehen durch Elemente, welche von der Decke oder von der Seite der Bühne hineingleiten und durch passende Lichteffekte weitere Nuancen erhalten. Daneben weisen die aufwendigen Kostüme ein Detailreichtum auf, das man im Laufe der mehr als zweistündigen Aufführung bewundern kann.

Drin ist, was drauf steht – mehr nicht

Man kann diesem Musical, wenn man denn will, zugute halten, dass drin ist, was drauf steht. Es bedient sich ziemlich genau der ausgeschilderten Vorlage, gewürzt mit den bereits genannten, nicht gerade atemberaubenden Ergänzungen.

Aber verdient es Lob, problematische Haltungen durch solche Produktionen zu zementieren? Wie man darauf antwortet, hat wohl sehr viel damit zu tun, worin der eigenen Auffassung nach der Auftrag von Kulturschaffenden besteht. Der Meinung der Autorin dieser Zeilen zufolge wurde hier ein Stück Literatur- und Filmgeschichte vermittelt, das man hätte wenigstens ansatzweise anders aufarbeiten oder kontextualisieren können, damit der Abend mehr als nur Unterhaltung mithilfe von Klischees wird.

Der Zusammenschluss zwischen Disney und Pixar hat neue Filme hervorgebracht, die versuchen, Stereotypen auf kreative Weise zu überwinden, und Anklang finden. Umso mehr wundert man sich über den Rückgriff auf eben dieses Werk. Erwachsenen Zuschauer sei selbst überlassen, ob sie altbackene Standpunkte glorifizieren und vertreten wollen, aber zumindest Kinder haben eine Alternative verdient. Viele unter ihnen gelangen ohnehin nur noch über den Weg von Zeichentrickfilmen oder in diesem Fall eben Musicals an Märchen. Da könnte man sich doch schon bemühen, ihnen etwas Bereichernderes mit auf den Weg zu geben. Auf die Zeilen „Märchen schreibt die Zeit“ folgt „Es ist ein altes Lied“. Vielleicht wird es Zeit, es neu zu vertonen!