29. Dezember 2025 - 7.53 Uhr
Akt.: 29. Dezember 2025 - 7.55 Uhr
Zwischen Chanel und SchafsmistLea Ypis Buch „Aufrecht“ handelt vom Überleben im Zeitalter der Extreme
Wohl kaum ein Land war jemals so „verbunkert“ wie das Reich Enver Hoxhas. Der einstige Diktator Albaniens hatte das Land im Lauf seiner rund 40-jährigen Herrschaft nicht nur komplett nach außen abgeschottet, sondern mit zahlreichen Bunkern übersät. Auf vier Einwohner des unter dem stalinistischen System darbenden Landes kam einer – Ausdruck einer beispiellosen Paranoia. Dieser Wahn richtete sich gegen die Nachbarstaaten ebenso wie gegen alle anderen, auch gegen die eigene Bevölkerung.
Albanien unter Hoxha war schwer zu besuchen und noch schwerer zu verlassen. In dem Land des „Steinzeit-Kommunisten“, wie der Diktator im Westen oft bezeichnet wurde, verbrachte Lea Ypi ihre Kindheit. Die albanisch-britische Politikwissenschaftlerin, 1979 in Tirana geboren, wuchs in der Hafenstadt Durrës an der Adria auf. Die Mitglieder ihrer Familie galten wegen ihrer bürgerlichen und feudalen Vorfahren als Klassenfeinde, Großeltern und Vater waren zumindest eine Zeitlang in politischer Gefangenschaft.
Nach dem Ende der Diktatur 1991 und der anschließenden Übergangszeit studierte Ypi in Rom Philosophie, Literatur und Journalismus. Danach führte ihre wissenschaftliche Laufbahn sie unter anderem nach Oxford, Canberra und an mehrere deutsche Universitäten sowie schließlich nach London, wo sie heute an der School of Economics lehrt. Die Schwerpunkte ihrer Forschungsarbeit sind unter anderem Grundlagen der politischen Philosophie, Migration und die Geistesgeschichte des Balkans, nicht zuletzt ihrer albanischen Heimat.
„Letzter stalinistischer Außenposten Europas“
In ihrem autobiografischen Buch „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“, 2021 zuerst auf Englisch erschienen, erzählt Ypi über ihre Jugend im sozialistischen Albanien, dem „letzten stalinistischen Außenposten in Europa“, wie der Hoxha-Staat oftmals genannt wurde, und der Übergangszeit. Sie selbst übersetzte es ins Albanische. Das Buch wurde vor allem ein internationaler Erfolg und sogar – in Bremen – für das Theater adaptiert. Freiheit war im Albanien ihrer Kindheit eine Utopie. Denn neben Mangelwirtschaft herrschte vor allem Hoxhas Geheimpolizei.

Die Stärke des Buches liegt besonders in der geschickten Vermischung von Autobiografischem und einer luziden analytischen Betrachtung des Übergangs zum Kapitalismus aus der Sicht einer politischen Wissenschaftlerin. Der Transitionsprozess hin zur Demokratie gelang nur mit Einschränkungen. Ypi beschreibt es als „doppelte Systemdesillusionierung“, als Verlust von Wahrheiten. Sie erzählt, wie sie damals eine Art Glaubenskrise durchlief. Die Jugend in Albanien hatte in der Wendezeit viel Hoffnung, die nach und nach verloren ging.
In ihrem neuesten Werk „Aufrecht“ geht Ypi zeitlich weiter zurück. Im Original heißt es „Indignity. A Life Reimagined“. Es beginnt mit einem Foto ihrer Großeltern Leman und Asllan Ypi von deren Hochzeitsreise 1941 im mondänen italienischen Wintersportort Cortina d’Ampezzo. Sie entdeckte das Foto auf Facebook. Davon ausgehend, rekonstruiert sie anhand von Geheimdienstakten die Geschichte ihrer Familie. Ihre Großmutter, auf dem Foto glamourös im weißen Pelzmantel, soll angeblich Spionin gewesen sein und sowohl mit Faschisten als auch Kommunisten kollaboriert haben. Nicht wenige Kommentare auf Facebook waren daher boshafter Natur. Ypi findet die Vorwürfe unerhört, doch wollen sie ihr nicht mehr aus dem Kopf. Auf knapp 400 Seiten verbindet Ypi wie schon in „Frei“ in einer Mischung aus Autobiografie und historisch-politischem Essay die Familiengeschichte mit Überlegungen zu Themen wie Erinnerung und Identität.
Im Mittelpunkt steht dabei ihre Großmutter Leman, genannt Nini, die als Angehörige der albanischen Minderheit in Griechenland aufwuchs und auf eigene Faust mit 18 Jahren nach Tirana ging, der Hauptstadt des damaligen Königreichs Albanien und multikulturelle Stadt mit Moscheen und orthodoxen Kirchen, schon damals voller Kontraste, zwischen Tradition und Moderne, Armut und Reichtum – oder zwischen „Chanel-Parfüm und Schafsmist“. Eine zur damaligen Zeit außergewöhnliche Entscheidung einer jungen Frau gegen alle misogynen Widerstände, vom griechischen Saloniki nach Albanien zu gehen. Sie lernt Asllan Ypi kennen, Jurist und einstiger Kommilitone von Enver Hoxha.
Das junge Ehepaar verbringt die faschistische Besatzungszeit durch italienische und deutsche Truppen in der inneren Emigration. Asllan wird zweieinhalb Jahre nach der kommunistischen Machtübernahme verhaftet und als Staatsfeind wegen Verschwörung zum Tode verurteilt. Das Urteil wird in eine 20-jährige Haftstrafe im berüchtigten Foltergefängnis Burrel umgewandelt, seine Frau zur Zwangsarbeit auf dem Land gezwungen. In Burrel wurden Tausende Regimegegner hingerichtet, zu Tode gefoltert oder starben an den erbärmlichen Haftbedingungen.
Das „reimaginierte“ Leben der Großeltern
Lea Ypi erzählt die Familiengeschichte nicht linear, sondern öffnet ein Kaleidoskop aus Rückblenden und Anekdoten, Archivmaterial und Aktennotizen. Das Buch hat mehrere Ebenen: So beschreibt die Autorin ihre eigenen Recherchen, andererseits die manchmal etwas zu ausführlichen Erzählungen der Großmutter. In einer Vorbemerkung erklärt sie, dass nicht alle Ereignisse real seien. Sie lässt der Fantasie zwar keinen freien Lauf, aber zumindest einen breiten Raum. Das Buch ist eher romanhaft als im Sachbuchstil, was der Autorin als geschickter Kunstgriff gelingt, indem sie das Leben ihrer Großeltern und vor allem ihrer Großmutter „reimaginiert“. Diese Vermischung wird ihr zugleich als Schwäche angekreidet, was nicht gerechtfertigt ist, schließlich erlebt das Genre des erzählenden historischen Sachbuchs seit einigen Jahren einen Boom, wie die jüngsten Bücher von Autoren wie Florian Illies und Volker Weidermann zeigen: „Wenn die Sonne untergeht: Familie Mann in Sanary“ bzw. „Wenn ich eine Wolke wäre: Mascha Kaléko und die Reise ihres Lebens“.
„Aufrecht“ hat eine bittere Pointe, die hier nicht verraten werden soll. Ging es in „Frei“ noch vorranging um die Idee der Freiheit in einer Zeit der historischen Umwälzung, so ist das neue Werk jene der Würde – erinnert sei an den Originaltitel „Indignity“, also Unwürde, beim „Überleben im Zeitalter der Extreme“. Dabei nimmt Ypi Anleihen bei Immanuel Kant, über den sie in „Die Architektur der Vernunft. Zweckmäßigkeit und systematische Einheit in Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘“ (2024) philosophiert. Im Interview mit dem Philosophie Magazin sagte die Autorin: „Ich bin mit einer sehr kantischen Großmutter aufgewachsen. Sie wusste nichts über Kant, aber sie hatte eine Moralvorstellung, die viele Elemente enthielt, die ich später in Kants Philosophie wiederfand.“
Als sie ihre Großmutter gefragt habe, ob sie an Gott glaube, habe diese gesagt: „Gott ist mein Gewissen.“ Und ein anderer wichtiger Punkt sei für sie die moralische Vernunft gewesen und „immer das Richtige zu tun, nicht weil man sich davon etwas Bestimmtes verspricht, sondern einfach, weil es das Richtige ist“. Als Leman Ypi 2006 starb, fand ihre Enkelin bei der Beerdigung keine Worte. Mit „Aufrecht“ ist Lea Ypi das endlich gelungen.
De Maart

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