Donnerstag30. Oktober 2025

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„Kein Licht“: Geistesblitze hellen das „Schlimmste“ auf

„Kein Licht“: Geistesblitze hellen das „Schlimmste“ auf

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Fukushima, Tsunami, Flutwelle, Nuklearkatastrophe, all diese Wörter waren 2011 in aller Munde. Mit dieser Katastrophe setzte sich die Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in den Jahren 2011, 2012 und 2017 intensiv auseinander. Die so entstandenen Texte bilden die chaotische Erzählstruktur dieses originellen Spektakels. Letzteres kombiniert daneben noch zeitgenössische Elektromusik mit  aufwühlend vorgetragenen dodekafonischen Kompositionen. Durchgehend begleitet ein erfrischender Operngesang auch noch wirkungsvoll die schauspielerischen Einlagen.

In der Tat wirkt der vorgetragene Text wie eine intensive Anhäufung von scheinbar sinnlosen Gedankensprüngen, die mit nuanciertem Stakkato interpretiert werden. Die Sätze erwürgen, sie erschlagen und belasten. Eine Tsunami-Wörterflutwelle wirbelt die Zuschauer mental durcheinander. Es ertönen dabei keine literarisch ausgeglichenen Sätze, und doch stechen immer wieder einzelne Wörter hervor. Diese bohren sich rücksichtslos in die zuschauenden Neuronen. So erzeugt dieses Nuklearchaos ebenbürtige Wortkonstrukte, die Sinn und Logik unaufhörlich erschüttern. Dabei leben einige spärliche Assoziationen funkenartig in den Köpfen der Unheils-Zeugen auf, ehe sie von einer Nachgeburt aus Gedanken abgelöst werden.

Kein Entkommen

Dieser unschöne Text fesselt unweigerlich, er macht betroffen und aus dieser finsteren Schrift entweicht wortwörtlich kein Licht. Räumliche oder zeitliche Orientierungshilfen fehlen absolut, so dass die Wörter jegliche Kommunikation verhindern. Abwechselnd prasseln rezitierte Wörter, lyrisch vorgetragene Zeilen, geflüsterte Reime oder im Chor gesungene Textkörper auf die Zuschauer ein. Es handelt sich dabei um eine teils gesprochene, teils gesungene Sprache, welche die Frage der Grenzen der Musik wie von selbst stellt. Es gibt kein Entkommen: Jeder ist dazu verdammt, das Schlimmste auf seine persönliche Weise zu erleben.

Da dieses Experiment abstraktes Denken mit der Sprache der Kunst vereint, wählte der französische Komponist Philippe Manoury dafür den passenden hybriden Neologismus „Thinkspiel“. So entstand durch seine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Nicolas Stemann ein neuer musikalischer und szenischer „Gegenstand“. Letzterer fusioniert auf intensive Art neben den Noten sowohl auch Sprache und Gesang. Auf diese Weise zündet eine Kernspaltung der szenischen Elemente eine Druckwelle, die gewaltig über das Publikum hinwegfegt. Die durchgehend überzeugenden Schauspieler sind daran nicht schuldlos.

Flucht in Fantasien

Nachdem der Text aus dem Jahre 2011 ein Chaos erschaffte, betont der zweite Teil  besonders die Tatsache, dass keiner der Überlebenden sich für Fukushima verantwortlich fühlt. Dieselfahrzeuge fahren umher, ehe als größtes Erlebnis das gelungene Aufladen eines iPhone entblößend vorgelebt wird. Nur als die Stromzufuhr abrupt abbricht, wird erstmalig klar, dass es so nicht weitergehen kann. Der dritte Teil behandelt  die akute Gefahr, die heute von Atomwaffen in den Händen eines zwitschernden Königs mit blonder Mähne ausgeht. Die Menschheit flüchtet sich in Fantasien, fliegt zum Mars und verlässt die Bühne, ehe die Party endgültig vorüber ist.

Neben der Musik stechen jedoch auch die visuellen Aspekte in diesem Spektakel hervor. Fortwährend werden Beleuchtung und Gestaltung gekonnt farblich umgesetzt. Dadurch entstehen in ständiger Evolution hektische, symmetrische oder auch sterile Bühnenbilder. Hier prasselt Giftwasser von der Decke, dort werden Boden und Darsteller überschwemmt. Verspielt wuchten symbolische Ballons über die Bühne, ohne dass man mit letzter Gewissheit darin Atome oder Weltkugeln erkennen soll. Am Ende stecken die Hauptfiguren A und B in Spielkugeln fest: Unbekümmert tollen sie herum,  ehe sie wieder kläglich versuchen, freizukommen. Sie sind jedoch nichts weiter als Konsumenten, Egozentriker, Spieler und Stromverbraucher. Wie wir alle. Erkennen sollen wir unsere  Spiegelbilder, die allesamt hoffnungslos in widersprüchlichen Taten oder Entscheidungen feststecken.

So ergibt Kunst Sinn

Vielleicht wird am Ende etwas zu moralisierend heraufbeschwört, welche Rolle das Geld in dieser absoluten Katastrophe spielte. Zudem wird etwas überflüssig nach der Verantwortung einer Tepco gesucht. Daneben lockern jedoch mehrere humorvolle Zwischenszenen die erdrückende Stimmung erfolgreich auf. Und rückblickend beweisen all diese Momente uns schonungslos, dass die Menschheit nur erntet, was sie sät. Wir alle tragen nun mal Verantwortung und sollen uns individuell fragen, wann wir was verändern möchten.

Nachdem am Anfang ein minutenlang heulender Dressurhund eine bedrückende Stimmung entstehen lässt, endet die Vorführung mit dem gleichen störenden Hundeseufzen.  Die nukleare Kettenreaktion hat gerade einen Kreis geschlossen. Abschließend sinnt jeder Zuschauer, ob er wohl aus all dem klüger geworden ist. Dabei berührt einen die Thematik auch Stunden später immer wieder. Die Musik, die Inszenierung, der Gesang und das Schauspiel strahlen so im Inneren weiter. Hier lässt das Schlimmste niemanden los: Dieses Thinkspiel verpflanzt bewusstseinserweiternde Überlebensfragen, die jeden Menschen viral befallen. Aus dieser achtbaren internationalen Koproduktion entsteht ein effizienter Fausthieb, der hochaktuelle Fragen aufwirft. Wird der wimmernde Hund, weil ihm das Ganze zum Heulen ist, weiter jaulen? So ergibt Kunst Sinn.

Von unserem Korrespondenten Christian Schaack