Tageblatt: Haben Sie für Ihre Arbeit ein künstlerisches Vorbild?
Hofesh Shechter: Mein Idol ist Stanley Kubrick, ich liebe Filme. Ich mag ihn besonders, weil er etwas Mysteriöses mit dem Kino gemacht hat. Er ist hinter die Narrative und die Geschichte gegangen – hin in eine neue Welt von Bildern und Musik. Theater versucht, uns Geschichten über Narrative zu erzählen, über Informationen, indem uns eine Geschichte präsentiert und vorgegeben wird.
Was kann Zeitgenössischer Tanz vermitteln, was Theater nicht kann?
Ich denke, Tanz kann uns Dinge tiefer verstehen lassen. Wahrscheinlich ist es schwieriger, über Tanz zu sprechen als über Theater. Am Ende einer Tanz-Performance denken manche Menschen, man müsste sie ihnen erklären. Aber ich sage oft, eine Tanz-Show ist eher wie ein Konzert: Du musst es erfahren, du musst es nicht verstehen. Ich glaube daran, dass die Kraft des Tanzes in der Erfahrung liegt. Es ist etwas, das man in einem bestimmten Moment erfährt. Es ist schwer zu beschreiben, sehr schwer darüber zu sprechen und zu definieren. Aber es ist eine sehr kraftvolle Erfahrung, die an die Sinne und Emotionen appelliert und die du mit vielen anderen in einem Theater teilst. In dem Sinne ist es ein einzigartiges Ereignis und eben kein analytisches Denkspiel.
Vor etwa zehn Jahren, als Sie im Grand Théâtre eine Ihrer Shows gezeigt haben, sagten Sie im Interview, dass London ein toller Ort zum Leben sei, ein Ort voller verlorener Seelen. Ist London noch immer „The place to be“?
Ja, absolut. Ich liebe es hier. Es ist ein offener, komplizierter und interessanter Ort. Ich bin Brite und werde vom British Arts Council gefördert. Ich fühle, dass es in England eine konstante Seelen-Suche gibt. Wir versuchen, einander zu verstehen, wer wir sind, und versuchen, die Dinge besser zu machen, mit all den Defekten dieser Kultur. Es gibt eine dunkle Vergangenheit, und es ist viel los. Aber es ist ein Ort, der herausfordert, sich infrage zu stellen. Das mag ich.
Das ist das, was ich als Choreograf vermag: den Zustand der Menschen um mich herum beeinflussen, und das ist kollaborativ
Fühlen Sie sich nicht gelähmt angesichts der weltpolitischen Entwicklungen?
Ich glaube, dass wir machtlos sind und dass das System, das wir haben, eine Illusion ist. Die Idee zu wählen und dann gemeinsam Entscheidungen zu treffen, ist ein bisschen wie eine Wolke voller Rauch, die uns vormacht, wir würden frei leben. Deswegen glaube ich nicht, dass wir die Welt irgendwie beeinflussen können. Wir werden kontrolliert durch diejenigen, die an der Macht sind. Wie sind sie da hingekommen? Du kannst sagen, wir haben sie gewählt oder sie haben die Macht an sich gerissen. Ich habe also generell keinen großen Glauben in Demokratie und Frieden.
Kann Kunst denn gegensteuern oder kann sie nur kurz „betäuben“ und ablenken?
Ich wünsche mir, dass die Leute frei sind und ihre eigenen Entscheidungen treffen können, aber ich glaube, ich habe nicht die Macht dazu. Ich habe aber die Kraft, mein Leben und das der Menschen direkt um mich herum zu beeinflussen. Ich lebe in einem Dorf und kann mit den Menschen um mich herum reden. Was auch immer ich durch ein Megafon sage, die Menschen hören mich. Die ganze Social-Media-Blase hat uns weggeführt von der Wahrheit. Wir wissen nicht mehr, was wahr ist, was uns verkauft wird und was Propaganda ist. Meine Fähigkeit besteht darin, die Menschen um mich herum zu erreichen, die Tänzer, das Publikum, diejenigen, die da sind, um zu erfahren, was Musik und Tanz ist. Das ist das, was ich als Choreograf vermag: den Zustand der Menschen um mich herum beeinflussen, und das ist kollaborativ. Ich glaube an Energie und diese Kraft des Zusammenwirkens. Das ist doch das, was ursprünglich Menschen in einem Miteinander so großartig gemacht hat.
„Theatre of Dreams“
Hofesh Shechter: Theatre of Dreams
Mit 13 Tänzer:innen. Choreografie und Musik: Hofesh Shechter, Licht-Design: Tom Visser; Kostüme: Osnat Kelner; performt durch die Hofesh Shechter Company.
Am Donnerstag, dem 27. März, Freitag, dem 28. März, und Samstag, dem 29. März, jeweils um 20 Uhr im Grand Théâtre.
Das heißt, Tanz ist das Gegenteil von Politik?
Genau. Politik ist etwas, was Menschen voneinander trennt und eine Kluft zwischen ihnen erzeugt, da geht es um Trennung. Deswegen bin ich kein Fan von Politik. Denn sie beruht darauf, Menschen und Gruppen auseinanderzubringen. Das ist doch der Grund jedes Konfliktes, da gibt es „uns“ und „sie“. Was wir aber im Tanz, in der Musik und in der Kunst verfolgen, ist die Idee einer kollaborativen Erfahrung des Lebens und das Verständnis, dass nur, indem wir zusammen wirken, wir es besser machen können. Ich glaube definitiv daran, dass die Kunst diese Macht hat, aber natürlich nur für diejenigen, die sich wirklich darauf einlassen. Tanz ist wirklich etwas, wo wir zusammenkommen und uns auch mit Spirituellem verbinden, uns mit der Erde verbinden …
Was ist das Hauptziel Ihrer künstlerischen Arbeiten, die wie Ihre Choreografie „Political Mother“ immer auch politisch gedeutet werden können?
Nochmal: Ich denke, meine Arbeit ist nicht politisch. Ich würde sagen, eine politische Arbeit ist etwas, das ein politisches Statement setzt, vorgibt, was richtig oder falsch ist. Ich will und mache das nie. Meine Choreografien zeigen Menschen in der Unterdrückung von Politik. Die Politik ist nur ein Hintergrundrauschen. Sie lassen die Zuschauer hoffentlich Fragen stellen darüber, wie wir hier hingekommen sind als Menschen im Schatten einer hoch politisierten Welt, was natürlich auch die Welt ist, in der ich lebe. Aber meine Neugierde richtet sich auf die menschliche Erfahrung. Ich nehme an, dass viele meine Arbeit aufgrund meiner Herkunft politisieren wollen. Aber meine Arbeit hat keine Agenda, ich gebe keinerlei Richtung und keine Interpretation vor.

Wie entstehen Ihre Choreografien?
Ich arbeite in einer instinktiven und sehr „messy“, also in einer chaotischen Weise, würde ich sagen. Ich beginne damit, Ideen in einem Notizbuch zu sammeln, sehe, was mich bewegt, was mich stört – und dann fange ich an, Sketche und Collagen aus Musik aufzuschreiben und entwickle das gemeinsam mit den Tänzern. Es gibt einen Ausgangspunkt, aber danach ist es ein sehr organischer Prozess, Dinge weiterzuentwickeln und zu diskutieren. Es ist mehr wie ein assoziatives Spiel. Eins kommt zum anderen, und ich versuche, so viele Bereiche und Emotionen zu öffnen wie möglich. Am Ende steht eine Reise für die Zuschauer, die eine starke Lebenserfahrung wiedergibt.
Was unterscheidet Ihre Choreografie „Theatre of Dreams“ von anderen, vorherigen Choreografien: Lädt sie zum Träumen ein, wie der Titel es schon suggeriert?
Bislang sieht jeder etwas anderes darin. Ich denke, es ist ein Stück über Frieden, über Ängste und Wünsche, ein sehr abstraktes Stück. Für mich ist der größte Unterschied zu meinen vorherigen Stücken die Freiheit, die ich mir genommen habe. Du kannst dich von einem Bild zum nächsten treiben lassen. Ich habe mit der Öffnung von Charakteren gearbeitet, bezogen auf Social Media, was wir nach außen darstellen wollen, aber auch, was versteckt ist vor unseren Augen, wie uns das prägt. Auch um zu zeigen, dass Realität visuell ist und zugleich einer Vision von dir selbst folgt – vielleicht können wir nur die Realität kreieren, die uns gelehrt wird.
Aber dieses Stück ist eben darüber, diese Dinge zu zeigen und zu verstecken. Wer auf die Bühne blickt, schaut wie in einen Kopf, sieht Bewusstes und Unbewusstes. Die Arbeit daran war mit viel künstlerischer Freiheit verbunden, und ich denke, sie ist dunkel, euphorisch, witzig – ich denke, es ist ein sehr verspieltes Stück.
De Maart
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