Historischer Roman von Laura BaldiniHans Asperger: Kinderfreundlicher Arzt​​​​​ oder Mittäter des Naziregimes?

Historischer Roman von Laura Baldini / Hans Asperger: Kinderfreundlicher Arzt​​​​​ oder Mittäter des Naziregimes?
Der historische Roman ist das Ergebnis der Recherchen von Beate Maly alias Laura Baldini Foto: Piper-Verlag

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Laura Baldini führt uns in ihrem neuen Roman „Aspergers Schüler“ zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, in ein dunkles Kapitel der Kinderklinik am Allgemeinen Krankenhaus Wien und der „Fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund“, in der mehr als 800 Kinder ermordet wurden.

Der Wiener Kinderarzt Hans Asperger gilt als einer derjenigen, die wissenschaftlich genau Symptome und Auswirkungen einer Behinderung beobachtet hat, die weithin mit Autismus beschrieben werden. Er verrichtete seine Arbeiten in einer Zeit, in der nazistische Ideologie von Rassenhygiene und Euthanasie „lebensunwerter Existenzen“ den Tod vieler kranker und behinderter Menschen nach sich zog. Auch Kinder mussten sterben. Es war Mord. Und der Arzt Asperger war willentlich oder nicht Mittäter.

Kinderfreundlicher Arzt​​​​​ oder Mittäter?

26. Januar 1995. An den Ruinen des Krematoriums II in Auschwitz-Birkenau treffen Eva Kor Mozes, eines der überlebenden Zwillingskinder des Vernichtungslagers, und der ehemalige SS-Lagerarzt Dr. Hans Münch zusammen. Eva Kor verliest eine „Deklaration der Vergebung“, in der sie erklärt, „allen Nazis, die sich direkt oder indirekt am Mord ihrer Familie und der Millionen anderen beteiligt haben“, zu vergeben. Es sei Zeit, nach vorn zu schauen, so Eva Kor. Münch nimmt die Hand, die ihm gereicht wird, dankbar an. Auch 50 Jahre nach den Verbrechen von Auschwitz weist der Arzt jegliche Schuld von sich. Zwei Jahre nach diesem Ereignis wird er in einem Interview erklären, es sei eine „einmalige wissenschaftliche Chance gewesen, an Menschen zu experimentieren, üblicherweise sei dies nur mit Kaninchen möglich“.

So wie Münch, der wegen seiner Tätigkeit im Vernichtungslager nie rechtlich zur Verantwortung gezogen wurde und nach dem Krieg bis ins hohe Alter weiter Menschen medizinisch behandeln durfte, so gelang etlichen, sich der Strafverfolgung zu entziehen: Carl Clauberg, Hans Delmotte, Josef Mengele, Horst Schumann. Und auch Dr. Hans Asperger aus Wien.

Auf seine Spuren begab sich die österreichische Kindergartenpädagogin und Frühförderin Beate Maly. Die auch als Autorin bekannte Wienerin hat unter dem Pseudonym Laura Baldini ihren jüngsten Roman „Aspergers Schüler“ veröffentlicht. In der Geschichte recherchiert die junge britische Psychologin Sarah Winter für ihre Dissertation die Arbeiten des Wiener Kinderarztes Dr. Hans Asperger. Winter ist im Auftrag ihrer Professorin Lorna Wing unterwegs, jener Londoner Psychiaterin, die als erste den Begriff „Asperger-Syndrom“ prägte. Bei ihren Recherchen in Wien stößt Sarah Winter nicht nur auf die medizinischen Forschungen des Kinderarztes Asperger. Mit Unterstützung des Publizistikstudenten Stefan Wagner, der gerade an einer Story über das nazistische Euthanasieprogramm in der Kinderpsychiatrie „Am Spiegelgrund“ recherchiert, entdeckt sie mehr und mehr dunkle Seiten Hans Aspergers. Je tiefer sie in die Geschichte vordringt, desto mehr stellt sich für Sarah – und so eben auch für den Leser – die Frage: War Asperger ein kinderfreundlicher Arzt und Beschützer seiner kleinen Patenten oder gehörte er zu den Mittätern einer mörderischen und menschenverachtenden Gesundheitspolitik des Nazisystems?

Experimente an Kindern

Laura Baldini führt ihre Leser durch ein Jahrzehnt dunkelster Geschichte Österreichs. Der Wandel der Alpenrepublik zur „Ostmark“ des nazideutschen Reiches vollzieht sich auch innerhalb der Klinikmauern des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. Die Autorin vollzieht den Weg Hans Aspergers vom katholisch-konservativen Mediziner zum angepassten Diener des Naziregimes. Traditionell obrigkeitshörig zieht der Kinderarzt nicht in Zweifel, dass „lebensunwerte Existenzen ausgemerzt“ gehören: Wie aus nach dem Krieg aufgefundene Unterlagen bestätigen, war Asperger verantwortlich für die Überstellung von mindestens 35 Kindern aus dem Klinikum in die „Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund“. Dort wurden im Rahmen des Euthanasieprogramms 800 Kinder bis zum Kriegsende ermordet, nachdem man an vielen vorher quälende Experimente veranstaltet hatte. Asperger hatte sich nicht direkt der Tötung dieser Kinder zuschulden kommen lassen, wie etwa sein früherer Assistent Erwin Jekelius, der im Nachkriegswien als Gerichtsgutachter tätige Heinrich Gross, die Kinderärztinnen Margarethe Hübsch und Marianne Türk. Doch er wusste von den Tötungen und nahm sie zumindest billigend in Kauf.

Der Roman führt uns Leser zusammen mit seinen Protagonisten Sarah und Stefan jedoch nicht nur zur dunklen Seite der Geschichte. Baldini zeigt auch das Bemühen Aspergers auf, Kinder, die autistisch sind, zu verstehen, ihre besonderen Fähigkeiten zu entdecken und auch zu fördern. So werden wir mit einer ambivalenten Medizinerpersönlichkeit vertraut, deren umstrittene Rolle auch nach dem Krieg nicht vollends aufgeklärt wurde.

Baldini wirft mit dem vor kurzem erschienenen Roman auch ein Licht auf den Umgang mit der Geschichte und der eigenen Verantwortung im Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Wienerin zeigt, wie gern Taten vertuscht, wie wenig sie verfolgt wurden und auch wie sich das Land gern als erstes Opfer, denn als Mittäter darstellte. Wo zum Beispiel die Mörder vom Spiegelgrund, wenn überhaupt nur zu geringen Strafen verurteilt wurden, mit der skandalösen Begründung, man könne ihre Taten nicht als Mord bewerten, da die Rechtsprechung bis 1997 davon ausging, dass an Geisteskranken oder -schwachen kein Mord im Sinne einer heimtückischen Tötung begangen werden könne, da den Betroffenen „die Einsicht fehle“.

Das Buch

Laura Baldini: „Aspergers Schüler“
Piper-Verlag
368 S., 23,10 Euro
ISBN 978-3-492-07185-7

Laura Baldinis Buch ist – bei aller Schere des Themas – ein flüssig zu lesender Roman, mit auch liebenswerten Gestalten. Und das ist gut so – so hat die Geschichte die Chance, viele Menschen zu erreichen. Dass sich ein Buch mit dem Thema überhaupt erst 80 Jahre nach den grausamen Ereignissen beschäftigt, zeigt, dass noch großer Aufklärungsbedarf besteht. Das Echo bei den Lesern wird zeigen, wie sehr dem entsprochen wird.

Asperger-Syndrom

Lange wurde der Begriff „Asperger-Syndrom“ in der Diagnostik verwendet, um bestimmte autistische Personen zu beschreiben. Genauer wurde bis 2022 zwischen drei Formen von Autismus unterschieden: dem frühkindlichen, dem atypischen und dem Asperger-Syndrom. In der neuen ICD-11 (International Classification of Diseases, 11th Revision), die zur Diagnose verwendet wird, bestehen diese Unterkategorien nicht mehr – stattdessen ist die Rede von Autismus-Spektrum-Störung mit vielen unterschiedlichen Ausprägungen. Ist beispielsweise eine Störung der funktionellen Sprache vorhanden, lautet die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der funktionellen Sprache“. Im Alltag werden diese Begriffe allerdings nicht in dieser Form verwendet.

Der Grund, warum diese Einteilung aufgehoben wurde, ist nicht auf die Geschichte von Dr. Hans Asperger zurückzuführen, sondern auf die Erkenntnis in der Wissenschaft, dass eine klare Abgrenzung der bisherigen Subtypen nicht möglich ist und man eher von einem Spektrum mit individuellen Ausprägungen ausgehen soll. Dennoch hat sich das Bild des Wiener Arztes, der teilweise als eine Art Held in der Autismusforschung galt, in den vergangenen Jahren verändert.

Unter Betroffenen gehen die Meinungen auseinander: Während die einen sich nach wie vor als „Aspies“ bezeichnen und den Begriff nicht als problematisch bewerten, lehnen die anderen ihn ab, da sie darin eine Hierarchie zwischen den weniger auffälligen Autisten und jenen, die mehr Hilfe im Alltag benötigen oder bei denen beispielsweise eine Störung der Intelligenzentwicklung festgestellt wurde, sehen. (gia)

Robert Hottua
3. Februar 2024 - 7.25

Auch in Luxemburg besteht ein Aufklärungsbedarf über die "Kaninchenmedizin" der Nazis. Zum Thema Hans ASPERGER schrieb auch der "Focus" Journalist Harald WIEDERSCHEIN am 8. Januar 2021 einen Artikel: Wie in NS-Verbrechen verstrickte Ärzte nach dem Krieg Karriere machten. (…) Sie wollten den Krieg gegen die ganze Welt gewinnen und die angebliche Überlegenheit der "germanischen Herrenrasse" sichern: Um ihre Pläne umzusetzen, waren das NS-Regime und seine Komplizen auf die Mitwirkung zahlreicher Ärzte angewiesen. Schließlich galt es, verwundete Soldaten zu versorgen und wieder kampftauglich zu machen. In den Augen der Nazis "lebensunwertes Leben" wie Kranke und Behinderte, aber auch jüdische "Rassefeinde" sollten ausgesondert und vernichtet werden. (…) "Nicht nur die Nazis brauchten die Ärzte, es war durchaus auch umgekehrt", sagt Thomas BEDDIES, stellvertretender Leiter des "Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik" in der Medizin an der Charité Berlin. "Auch viele Mediziner, die keine in der Wolle gefärbte Nazis waren, schätzten die Rahmenbedingungen, die ihnen die neuen Machthaber boten - vor allem, dass sie nun ohne ethische Einschränkungen forschen konnten." (…)
MfG
Robert Hottua