5. November 2025 - 11.23 Uhr
Neue FilmeFrançois Ozon wagt sich an Camus’ „L’Étranger“ – Kathryn Bigelow probt in „A House of Dynamite“ für den Ernstfall
Der fremde Blick: „L’Étranger“
François Ozon wagt sich mit „L’Étranger“ an einen der großen Texte des 20. Jahrhunderts – und tut das mit einer Präzision, die Respekt verrät, aber auch mit einer Öffnung, die Aktualitätsbezug schaffen soll.
„L’Étranger“, der neue Film von François Ozon, folgt Albert Camus’ Roman mit erstaunlicher Genauigkeit: Handlung, Dialoge sind nahezu wörtlich übernommen. Und doch entsteht daraus ein feinsinniger Versuch, den existenziellen Sinngehalt der Vorlage in Bewegung zu übersetzen: Der Film erzählt die bekannte Geschichte des Büroangestellten Meursault (Benjamin Voisin), der in Algier scheinbar teilnahmslos auf den Tod seiner Mutter reagiert, eine Affäre mit Marie (Nadia Tereszkiewicz) beginnt und schließlich – nach einem sinnlos anmutenden Mord an einem namenlosen Araber (Amir El Kacem) – vor Gericht steht. Sein Mangel an Emotion wird dort zum Skandal, sein Schweigen zur Schuld.

Über Camus hinweg
Vor Ozons Film gab es schon einmal einen bekannten Versuch, Camus’ Roman zu verfilmen: Luchino Viscontis „Lo straniero“ (1967) mit Marcello Mastroianni und Anna Karina. Visconti inszenierte Meursault als Mann von tragischer Würde, als melancholischen Intellektuellen, gefangen in seiner Zeit. Ozons Film ist die Negation dieses barocken Humanismus – ein Gegenbild, das Camus näher kommt, indem es ihn weniger verwandelt als umkreist. Das Schwarz-Weiß der Bilder wirkt zunächst wie eine nostalgische Geste, doch es ist weit mehr. Es ruft die matte, typografische Ästhetik alter Gallimard-Umschläge auf – eine Oberfläche zwischen Text und Bild. Licht und Schatten werden zu moralischen Kategorien, Grautöne zu psychologischen Räumen. Nichts lenkt ab: keine Farbe, kein überflüssiger Ton. In dieser Reduktion liegt die Strenge und Konzentration des Films.
Neu und entscheidend ist, dass Ozon die Ränder des Textes öffnet. Marie, die Geliebte, erhält mehr Kontur, ein eigenes Begehren, das über Meursault hinausweist. Es gibt einen vielsagenden Wortwechsel zwischen ihr und der Schwester des Getöteten. Denn der namenlose Araber, das stumme Opfer, wird nicht länger nur als Tatobjekt gezeigt. Seine Präsenz – in kurzen, stillen Szenen, in Gesten und Blicken – verschiebt das moralische Gewicht. Der Tote wird zur Figur einer verdrängten Geschichte, in der sich Macht, Herkunft und Migration bündeln. Der Film denkt Camus weiter, indem er ihre koloniale Leerstelle, allein schon in seiner kontextualisierenden Exposition, sichtbar macht. Die Absurdität bleibt – aber sie ist nicht mehr nur existenziell, sondern auch historisch und politisch.
Stärke des Films
„L’Étranger“ ist zugleich ein Film über das Verhältnis von Literatur und Kino. Ozon illustriert Camus – im wörtlichen Sinn. Er überträgt Sprache in Bild, Rhythmus in Dauer. Der Film liest den Roman, anstatt ihn zu paraphrasieren. Darin liegt ein Wagnis. Denn eine Verfilmung, die sich zu eng an den Worten des Textes hält, droht, das Kino seiner eigenen Ausdruckskraft zu berauben – sie kann zur bloßen Bebilderung werden, gut gemeint, aber ohne Notwendigkeit. Ozon entgeht dieser Falle, weil er die Differenz der Medien kennt und sie produktiv macht. Seine Treue zur Vorlage ist keine Unterwerfung, sondern eine Form der experimentellen Reflexion: Er zeigt, was geschieht, wenn ein literarischer Text sich im Medium der Bilder und Töne spiegelt. Ozons Film denkt, was Camus schrieb, in Bildern weiter – und zeigt, dass große Literaturverfilmungen nicht in der Überbietung liegen. Der Film weiß, dass er kein Buch ist – und genau darin liegt seine Wirkung.
Am Ende bleibt „L’Étranger“ ein Film über Distanz – zwischen Menschen, zwischen Zeiten, zwischen Sprachen. Er trägt ein stilles Brodeln, das Bewusstsein einer Fremdheit, die nicht auflösbar ist. Ein stilles, strenges, aber ungemein getreues Werk, das die Absurdität des Daseins in Schwarz und Weiß zeichnet – und darin den fremden Blick neu schärft.
(Im Kino)
Wenn der Wahnsinn Realität wird: „A House of Dynamite“
Kathryn Bigelows „A House of Dynamite“ zeigt den nuklearen Ernstfall als Studie über Vertrauen, Kontrollverlust und sehr gegenwärtige Ängste.

Es beginnt mit einem Grollen. Dann Stille, Bildschirme flackern, Stimmen ordnen Routinebefehle. Für einen Moment scheint alles kontrollierbar – bis eine beiläufige Einstellung das ganze Szenario unterläuft: Im Kinderzimmer stehen Dinosaurierfiguren. Ein Detail, das sich als Vorausbild der totalen Selbstvernichtung erweist – das Echo einer Spezies, die der Naturkatastrophe erlag, während der Mensch sich nun durch seine eigene Katastrophe auslöscht.
Kontrolle und Verlust
„A House of Dynamite“ ist kein Katastrophenfilm im klassischen Sinn. Kathryn Bigelow ist eine Regisseurin, die Menschen dort sucht, wo sie brechen. Wo Befehl und Gewissen kollidieren, wo Systeme größer sind als ihre Akteure, entsteht in ihren Filmen jene eigentümliche Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust. In „A House of Dynamite“ treibt sie diese Konstellation auf ihren absoluten Nullpunkt. Wie schon in „The Hurt Locker“ (2008) oder „Zero Dark Thirty“ (2012) interessiert sich Bigelow weniger für Heldentum als für die Mechanik des Überlebens.
Eine Rakete unbekannter Herkunft wird im Pazifik gestartet, man vermutet zunächst einen Test oder einen Rundungsfehler. Doch die Bahnkurve verrät bald ihren Kurs: Der Sprengkopf zielt auf den mittleren Westen der USA. Binnen Minuten steigt der Verteidigungsapparat in höchste Alarmbereitschaft. DEFCON 2 – die letzte Stufe vor dem nuklearen Krieg – wird ausgerufen. Von diesem Moment an ist „A House of Dynamite“ ein Film über das Funktionieren. Die Schaltzentralen der Macht werden hektisch gegeneinander geschnitten, Protokolle greifen ineinander, Menschen werden zu Handgriffen, Worte zu Codes. Bigelow montiert diesen kollektiven Ausnahmezustand mit kalter Präzision und atemloser Energie.
Wenn die Maschinen versagen
Doch während sich Bildschirme mit Daten füllen, Karten neu berechnet und Stimmen durch Telefonleitungen jagen, wird die Brüchigkeit der Technik sichtbar. Ein falsches Signal, Abwehrraketen, die nicht einschlagen, eine fehlerhaft interpretierte Raketenbahn, eine verzögerte Antwort im Funkverkehr – es braucht nicht mehr und schon verschiebt sich die Realität. Das Vertrauen, das die Apparate tragen sollen, kippt zurück auf die Menschen, die sie bedienen. In diesen Momenten zählt kein Algorithmus, keine Vorschrift, sondern nur, ob jemand den Mut hat, einem anderen zu vertrauen.

„A House of Dynamite“ erzählt den drohenden Untergang in drei Abschnitten, die dasselbe Zeitfenster aus unterschiedlichen Perspektiven verfolgen – von der Analystin im Lagezentrum (Rebecca Ferguson) über den nationalen Sicherheitsberater Jake Baerington, den Verteidigungsminister (Jared Harris) bis hin zum Präsidenten (Idris Elba). Der Film zeigt den Ernstfall als Verwaltungsakt. „This is insanity“, sagt der Präsident. „This is reality“, antwortet der General. Zwischen diesen beiden Sätzen spannt sich die ganze Tragweite des Films. Jeder Durchlauf führt näher an den Punkt, an dem Entscheidungen endgültig werden.
Bezug zur Aktualität
Die Wiederholungen erzeugen einen steigenden Sog. So entfaltet sich ein Spannungsbogen, der nicht auf Überraschung zielt, sondern auf Erkenntnis: Die Welt, die glaubt, auf der Höhe technologischer Sicherheitssysteme zu sein, ist doch auf Messers Schneide gebaut. Die Kamera bleibt nah an Gesichtern. Schnitt und Ton erzeugen eine rhythmische Beklemmung, die sich kaum löst.
Bigelows Film ist streng, gnadenlos, erschütternd menschlich in seiner Kälte und ist dabei von beklemmender Aktualität. In einer Zeit, in der geopolitische Spannungen, automatisierte Waffensysteme und menschliches Misstrauen erneut gefährlich ineinandergreifen, zeigt Bigelow uns, dass, wenn alles versagt, das einzig Verlässliche vielleicht doch das Menschliche ist.
(Auf Netflix)
De Maart
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