Sonntag21. Dezember 2025

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AutobiografieErinnerungen einer „Poète maudite“

Autobiografie / Erinnerungen einer „Poète maudite“
Patti Smith besitzt Charisma auf der Bühne sowie Erzähltalent und poetische Kraft beim Schreiben  Foto: Steven Sebring

Sie ist die Poetin unter den Rockstars und hat von ihrer Glaubwürdigkeit als „Godmother of Punk“ bis heute nichts verloren. Patti Smith schreibt in „Bread of Angels“ auf höchstem Niveau an ihrer Autobiografie weiter.

Es ist der 10. Dezember 2016. Bob Dylan ist mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden, selbst aber nicht zur Überreichung erschienen. An seiner Stelle ist Patti Smith nach Stockholm gekommen. Die beiden sind seit Jahrzehnten befreundet. Sie singt Dylans „A Hard Rain‘s A-Gonna Fall“ – und hat einen Hänger, weil sie so nervös ist. Trotzdem ist sie genau die richtige Person, die den Preis für Dylan annimmt. Denn kaum eine andere Musikerin hat so einen engen Bezug zur Poesie wie Patti Smith.

Ihr erstes Konzert gab sie im Februar 1971. Es war mehr eine Dichterlesung, untermalt von Gitarrenspiel. Von Anfang hat sich Patti Smith als Lyrikerin gesehen. Vor ihrem gefeierten Debütalbum „Horses“ (1975) brachte sie Gedichtbände heraus. In der Musik sei sie zufällig gelandet, heißt es. Das Singen betrachtete sie als Möglichkeit, ihre Gedichte vorzutragen. Als Erzählerin ihrer eigenen Lebensgeschichte hat die „Godmother of Punk“, wie sie häufig genannt wird, mittlerweile kaum weniger Lorbeeren verdient als mit ihren Songs.

Die 2010 mit großem Erfolg veröffentlichte Coming-of-Age-Geschichte „Just Kids“, ihre ersten Memoiren, wird von Kritikern hochgelobt. Darin geht es primär um ihre tiefe Beziehung zu dem Fotografen Robert Mapplethorpe, den Smith kennenlernt, gleich nachdem sie 1967 in New York angekommen ist, und mit dem sie zusammenwohnt. Er stirbt 1989 im Alter von 42 Jahren an den Folgen einer Aids-Erkrankung. „M Train“ (2015) handelt vorwiegend von ihrer Ehe mit Fred „Sonic“ Smith, dem früheren Gitarristen der Band MC5, mit dem sie zwei Kinder hat und der 1994 einem Herzinfarkt erliegt.

Sprache ins Schwingen gebracht

Das dieses Jahr im Original erschienene „Bread of Angels“, sogleich auf Deutsch übersetzt, fügt sich in die Reihe von Patti Smiths bisherigen Memoiren ein. Einmal mehr zeigt sich das große erzählerische Talent der Autorin und ihre poetische Kraft, die Sprache zum Schwingen zu bringen. Sie suche nach Unsterblichkeit, Schönheit und Magie, wie es der in diesem Jahr verstorbene Schriftsteller Edmund White formuliert hat. Er weist darauf hin, dass sie bereits früh eine „göttliche Reihe von Dichtern“ entdeckt habe.

Darunter ist der „Poète maudit“ Arthur Rimbaud. Sie verehrt ihn und sieht in dem französischen Dichter einen Gleichgesinnten und Wesensverwandten, der sie inspiriert und durch das Leben begleitet. Seine Mutter war streng religiös, ihre Mutter Zeugin Jehovas. Vor ein paar Jahren hat Patti Smith das Haus in Roche im französischen Département Ardennes gekauft, wo Rimbaud lebte und 1873 „Une saison en enfer“ schrieb.

„Bread of Angels“ mit dem deutschen Untertitel „Die Geschichte meines Lebens“ ist eine Art Vorläufer wie auch eine Fortsetzung von „Just Kids“. Brigitte Jakobeit ist es vortrefflich gelungen, diese Magie ins Deutsche zu übertragen. In ihrer Kindheit folgt ein Umzug dem anderen. Die Familie lebt zuerst in Chicago, wo sie geboren ist, in einer Pension in Philadelphia, dann in einer Sozialwohnung, bevor sie sich in einer Neubausiedlung im Süden von Jersey niederlässt.

Tagträume auf dem Schulweg

Patti Smith vergöttert ihren Vater, einen traumatisierten Veteranen des Zweiten Weltkriegs, der Fabrikjobs annimmt, um seine Familie zu ernähren. Sie ist ein kränkliches Kind. Tuberkulose wird bei ihr diagnostiziert, woraufhin sie nach Chattanooga geschickt wird, um sich bei Verwandten zu erholen. Sie wird in die Sonntagsschule geschickt, führt Tagebuch und versinkt in Tagträumen – in einer Geschichte wird sie auf dem Schulweg von einer Schildkröte aufgehalten und verbringt den Vormittag damit, sich mit ihr zu unterhalten.

Allmählich wird aus Patti Smith die rebellische Künstlerin, als sie sich weigert, in der Schule vor der US-Flagge zu salutieren. Bei ihrem ersten Besuch in einem Kunstmuseum beflügeln Picasso und Modigliani ihre Fantasie. Der Wendepunkt kommt, als die 19-Jährige verkündet, dass sie schwanger ist. Smith gibt ihr Kind zur Adoption frei, zieht nach New York City und beginnt das Leben, das in „Just Kids“ beschrieben wird. Diese Jahre mit ihrem Seelenverwandten Robert Mapplethorpe vergehen wie im Flug. Das Tempo des Buches nimmt zu: die Romanze mit Sam Shepard, ihr Debüt in der St. Mark’s Church mit dem Gitarristen Lenny Kaye, die Zeit in dem legendären Punk-Club CBGB in der Bowery in Manhattan.

Mit Fred „Sonic“ Smith bricht Patti Smith nach Michigan auf. Sie richten sich in dem verlassenen Hotel ein und renovieren ein altes Boot, reisen zu weit entfernten künstlerischen Sehenswürdigkeiten und erleben eine glückliche Zeit, die sie detailliert beschreibt: „Meine Tarotkarten, Freds Motorradjacke. Seine mit schwarzem Klebeband zusammengehaltenen Cowboystiefel. Unser Fünf-Flecken-Fußboden. An all das erinnere ich mich. Nachts hörten wir Platten und endeten oft mit ‚A Love Supreme‘.“ Sie heiraten und bekommen Kinder. Sie wäscht Wäsche und schreibt.

Zeit der Verluste und kreative Wiedergeburt

Auf Fred Smiths Tod aufgrund einer Herzinsuffizienz im Jahr 1994 folgen weitere Verluste und Todesfälle, darunter ihr Bruder Todd. Doch es kommt zu einer kreativen Wiedergeburt. R.E.M.-Sänger Michael Stipe ruft sie an und begründet damit eine lange Freundschaft. Allen Ginsberg drängt sie, auf die Bühne zurückzukehren. Doch auch er stirbt 1997, ebenso William S. Burroughs. Ihr langjähriger Weggefährte Tom Verlaine schließt sich ihrer Band für eine Comeback-Tournee an. „Da Todd nicht mehr bei uns war, bemühte sich die Band, als Onkelersatz zu dienen“, schreibt sie im Kapitel „Mortal Shoes“. Verlaine, der sich gut mit den Kindern Jack und Jesse versteht, verwandelt die Reise in eine „surreale Spielzeit“.

Dylan lädt sie ein, einige Shows zu eröffnen und ein großartiges Duett zu singen: „Dark Eyes“. Neue Alben, Tourneen, Bücher, Auszeichnungen, Aktivismus. Schließlich entdecken sie und ihre Schwester Linda etwas über ihre Abstammung. Die bald 79-Jährige denkt in „Bread of Angels“ über die Suche nach einer universellen Musik nach, der „Sprache des Friedens“, wie es Jimi Hendrix nannte. Hoffentlich denkt sie auch darüber nach, weitere Bücher wie dieses zu schreiben.

Patti Smith: Bread of Angels. Kiepenheuer und Witsch. Köln 2025. 320 Seiten. 26 Euro