Für die von den Siegermächten anvisierte Bedeutung des Prozesses als Beginn einer neuen Zeitrechnung kam der internationalen Presse eine zentrale Rolle zu. Über die Berichterstattung zu der mit enormem Aufwand initiierten Gerichtsverhandlung sollte weltweit die Botschaft einer politischen Ordnung, der es darum ging, kriegerische Eskalationen in den apokalyptischen Dimensionen des Zweiten Weltkrieges ein für allemal der Vergangenheit angehören zu lassen, propagiert werden.
So einzigartig wie der Prozess blieb auch der Auftrieb an literarischem Talent, das sich in Nürnberg Ende 1945 als Korrespondenten ansammelte: John Dos Passos und Martha Gellhorn aus den USA, Rebecca West aus Großbritannien, Ilja Ehrenburg aus Russland, Elsa Triolet aus Frankreich, Erich Kästner aus Deutschland – und nicht zu vergessen Erika sowie Golo Mann, die Kinder des durch die Nazis aus Deutschland vertriebenen Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann, um nur einige zu nennen. Hinzurechnen muss man auch Reporter wie Walter Lippmann, Willy Brand oder Markus Wolf, die später berühmt und teils auch berüchtigt werden sollten. Weil Nürnberg – nicht zuletzt auch als „Stadt der Reichsparteitage“ der Nazis – im Krieg schweren Bombardements ausgesetzt war und kaum Unterkunft für hunderte Presseleute bot, suchten die Alliierten in der näheren Umgebung nach einer geeigneten Bleibe. In der Ortschaft Stein wurde schließlich das „beschlagnahmte Schloss der Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell, ein im Stil des Historismus erbauter burgartiger Komplex, der den Krieg ohne nennenswerten Schaden überstanden hatte (…) in ein internationales Press Camp umgewandelt“.
Vertreterin eines kompromisslosen Standpunktes
Den klobigen, dunklen Kasten, der heute noch steht, nahm Uwe Neumahr zum Ausgangspunkt, um ein Buch unter dem Titel „Das Schloss der Schriftsteller“ zu verfassen. Darin werden die weiteren Umstände bzw. das Beiwerk des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses (dem noch etliche weitere Prozesse folgen sollten) sozusagen von der Pressebühne herab anschaulich dargestellt. Hierzu gehören kurze Zusammenfassungen der Lebenswege einzelner Protagonisten bis zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Nürnberg und wie ihre Erfahrungen dort ihre weiteren Karrieren oder gar Existenzen insgesamt prägten. Martha Gellhorn beispielsweise sollte durch die schockartige Erfahrung bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau wie auch wegen ihrer Beobachtungen der durchweg uneinsichtigen Angeklagten in Nürnberg zur Verfechterin eines kompromisslosen Standpunktes gegenüber Deutschland werden: Wer solche Verbrechen verübt, hat auch als Nation keine Gnade verdient. Dagegen standen Verfechter eines versöhnlichen Kurses, die zwar die Haupttäter streng bestrafen, die übrige deutsche Bevölkerung aber zurück in den Kreis der zivilisierten Staaten führen wollten.
Dass im Hintergrund bereits die Grundlagen für den Jahrzehnte währenden Kalten Krieg angelegt wurden, spielt in Uwe Neumahrs Ausführungen ebenfalls eine wichtige Rolle, wobei der Autor zugleich mit profundem Wissen wie mit einem Erzählstil glänzt, der zuweilen in einen regelrechten Plauderton verfällt. Selbst für Klatsch und Tratsch, wie etwa Rebecca Wests Affäre mit dem US-amerikanischen Richter Francis Biddle, findet Neumahr Platz, ohne das eigentliche Anliegen seines Buches, die Geschichte des Nürnberger Prozesses und die zeitgenössische Kritik an ihm, möglichst anschaulich in Erinnerung zu rufen, aus dem Blick zu verlieren.

Infos
Uwe Neumahr: „Das Schloss der Schriftsteller: Nürnberg ’46 – Treffen am Abgrund“
Verlag C. H. Beck, München 2023
304 S., 26,00 Euro
De Maart
Der von Herrn Thomas KOPPENHAGEN erwähnte Literaturnobelpreisträger Thomas MANN hat sich auch zum nationalsozialistischen Massenmord hinter Anstaltsmauern geäußert. Der Medizinhistoriker Hans-Walter SCHMUHL erwähnt das in seiner Studie "Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie" aus dem Jahr 1986.
▪Vorwort. Die vorliegende Studie wurde im Jahr 1986 unter dem Titel "Die Synthese von Arzt und Henker" von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. (R.H.: Synthese=Vereinigung verschiedener gegensätzlicher geistiger Elemente zu einem neuen höheren Ganzen, laut DUDEN) "Für vielfache Unterstützung und konstruktive Kritik bin ich meinem Doktorvater Prof. H.-U. WEHLER sowie Prof. C. KLESSMANN und Prof. R. KOSELLECK besonders verbunden. Dem Arbeitskreis 'Euthanasie-Forschung', insbesondere Prof. Klaus DÖRNER, schulde ich Dank für vielfache Anregungen. Gedankt sei auch den Mitarbeitern der von mir besuchten Archive."
▪Einleitung. (::::) Um den 'Abfall vom Humanen', der sich wie ein roter Faden durch die deutsche Geschichte der Zwischenkriegszeit zog, an einem Beispiel zu verdeutlichen, wies Thomas MANN in seinem Roman 'Doktor Faustus' auch auf den Massenmord an seelisch Kranken und geistig Behinderten hin, der in den Jahren von 1939 bis 1945 im Machtbereich des NS-Regimes stattgefunden hatte. Durch einen geschickten Kunstgriff die Zeitebenen verschiebend, kleidete MANN seine Deutung des Massenmordes hinter Anstaltsmauern, dem der Zusammenbruch Deutschlands gerade erst ein Ende gesetzt hatte - der betreffende Abschnitt entstand in den ersten Monaten des Jahres 1946 -, in die Gestalt einer Voraussage, die er in die fiktiven Debatten eines Schwabinger Intellektuellenzirkels im Jahre 1919 einflocht. 'Zweifellos', hieß es dort, 'würde man die Nicht-Bewahrung des Kranken im größeren Stil, die Tötung Lebensunfähiger und Schwachsinniger, wenn man eines Tages dazu überging, volks- und rassehygienisch begründen, während es sich in Wirklichkeit um weit tiefere Entschlüsse, um die Absage an alle humane Verweichlichung handeln würde, die das Werk der bürgerlichen Epoche gewesen war: um ein instinktives Sich-in Form-Bringen der Menschheit für harte und finstere, der Humanität spottende Läufte'. Den
Vernichtungswillen, der sich gegen Kranke und Behinderte richtete, führte MANN, hierin die Diktion der Pamphlete zur 'Vernichtung lebensunwerten Lebens', die nach dem 1. Weltkrieg erschienen waren, treffend, auf eine 'intentionelle Re-Barbarisierung' zurück. Dieser Sichtweise zufolge dienten die dem rassenhygienischen Paradigma verpflichteten Wissenschaften, eingespannt in ein ideologisches Prokrustesbett, der sekundären 'Rationalisierung der primär vorhandenen Tendenz zum Fallenlassen, Aufgeben, Abkommen und Vereinfachen ..., - bei hygienischen Begründungen war jeder Ideologie-Verdacht am Platze'. Indem er die 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' vor dem Hintergrund der 'Verfallsgeschichte der bürgerlichen Kultur in Deutschland' betrachtete, eröffnete Thomas MANN eine historische Perspektive, der sich Ansatzpunkte für eine kausalgenetische Interpretation der 'Euthanasie' abgewinnen lassen. Denn sie lenkt die Aufmerksamkeit auf soziokulturelle Prozesse im Vorfeld der Vernichtung, die man, um einen von Alexander MITSCHERLICH geprägten Schlüsselbegriff zu verwenden, als 'Kulturentledigung' beschreiben kann. Von diesem Begriff ausgehend, erhebt sich die Frage nach der verhängnisvollen 'Verknüpfung von vernunftlähmenden und triebenthemmenden Umständen', die in der tiefgestaffelten Vorgeschichte der 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' zur Delegitimierung der deontologischen Konventionen, ethischen Normen und juristischen Kautelen beitrugen, auf denen das ärztliche Berufsethos beruhte. (R.H.: Kautel: vertraglicher Vorbehalt, Absicherung, Sicherheitsvorkehrung, Duden) Zur Debatte steht die Hybris einer Medizin, die, einem selbstangemaßten Allmachtsanspruch erliegend, glaubte, um jeden Preis - auch um den Preis der Gewaltanwendung - helfen zu müssen. Diese Perversion des therapeutischen Imperativs führte, in Verbindung mit einem verfehlten ganzheitlichen Ansatz, der den 'Volkskörper' zum Objekt der Medizin erhob, schließlich dazu, daß man Krankheiten und Behinderungen bekämpfte, indem man Kranke und Behinderte ermordete. Für das ärztliche Handeln bedeutete dies, wie ein kritischer Psychiater bereits im Jahre 1922 scharfsinnig voraussah, in letzter Konsequenz die 'Synthese von Arzt und Henker'. Diese prägnante Formulierung umschreibt in nuce (R.H.: kurzgesagt) das erklärungsbedürftige Phänomen, dem sich die geschichtswissenschaftliche Forschung zur 'Euthanasie' im Nationalsozialismus zu stellen hat. MfG, Robert Hottua, 2004 Gründer der LGSP.