KinowocheDie neue Generation des britischen Realismus

Kinowoche / Die neue Generation des britischen Realismus
Harris Dickinson (l.) und die junge Lola Campbell als Georgie geben eine tolle, bittersüße Kombi  

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Fluch oder Segen – das Sozialdrama ist im britischen Kino fest verankert. „Scrapper“, der Debütfilm der Filmemacherin Charlotte Regan, ist der Versuch, sich dieses Genre anzueignen und ihm, fernab von Ken Loach und Mike Leigh, eine persönliche Note zu verleihen. Ein Porträt eines ungleichen Duos, welches seinen Platz in der Welt zu finden versucht. Bestenfalls zusammen.

„Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen, heißt es im Volksmund.“ Mit diesen Worten beginnt „Scrapper“, wie es andere Filme mit einem literarischen, philosophischen Zitat oder mit dem Hinweis „Nach einer wahren Begebenheit“ machen. „Scrapper“ ist aber nicht so ein Film. Ein gelbes Edding streicht die Bauernweisheit durch und schreibt hin: „Ich kann mich selbst großziehen, danke“. Georgie ist ein 12-jähriges Mädchen, tough, unberechenbar und geht nicht in die Schule. Georgie lebt aber auch nach dem Tod ihrer alleinerziehenden Mutter alleine im Kleinhaus. Irgendwie hat sie dem Sozialdienst erfolgreich verklickert, dass sich ihr Onkel um sie kümmert. Ein Onkel, den es natürlich nicht gibt. Mit ihrem besten Freund klaut sie Fahrräder, um über die Runden zu kommen, hängt in ihrem Haus rum und hält dieses so sauber und in dem Zustand, als ob ihre Mutter noch am Leben wäre. Doch eines Tages kommt ein blond gefärbter und Shorts tragender junger Mann über den Gartenzaun gestiegen. Jason, ihr Vater, steht plötzlich vor ihr. Und ob sie es wollen oder nicht, werden die beiden die Realität annehmen müssen.

Eine bittersüße Kombi

Das britische Sozialdrama vegetiert seit Längerem vor sich hin und der federführende Ken Loach ist an diesem Zustand mitverantwortlich. Nicht erst seit „The Old Oak“ sind seine Filme weniger als subtile Anprangerungen von gesellschaftlichen Missständen geworden. Die letzte wirklich tolle Figur in einem Loach-Film war Eric Cantona, und das spricht Bände. Gott sei Dank ist der Filmnachwuchs auf der Insel nicht auf den Kopf gefallen. Charlotte Regan nimmt sich dieses urbritischen Filmgenres an und stellt seine aktuelle Ausrichtung auf den Kopf. Will heißen: Figurenzeichnung ist wieder voll im Zentrum wiederzufinden. Je mehr Politik in den Filmen der Alten des „british realism“ steckt, desto weniger ist sie in jenen der neuen Generation von (vor allem) Filmemacherinnen wiederzufinden. Ihre Sozialstudien scheinen exklusiv aus ihren Charakteren herzurühren.

Die junge Lola Campbell als Georgie und Harris Dickinson – bekannt aus „Triangle of Sadness“ und bald neben Zac Efron in „The Iron Claw“ zu sehen – geben eine tolle, bittersüße Kombi. Zwar bleiben sie im Schatten des Vater-Tochter-Gespanns von „Aftersun“, nichtsdestotrotz tragen sie den Film, der trotz Hintergrund von sozialer Tristesse mit ungewöhnlich satten Farben punktet. Diese hat Molly Manning Walker und ihre Kamera eingefangen, die Filmemacherin hinter dem „Certain Regard“-Gewinner „How to Have Sex“. Natürlich ist das Bild vom erwachsenen Kind und dem kindlichen Vater, die beide ihre Dämonen haben – sie betrauert den Tod ihrer Mutter, während er Angst vor seiner Verantwortung hat – nicht ganz so fein, wie das, was Charlotte Wells und Manning Walker auf ihren Urlaubszielen zum Thema machen, und trotzdem hat man das Gefühl, dass man weiterhin ein Augenmerk auf Charlotte Regan legen sollte.

„Scrapper“ von Charlotte Regan, mit u.a. Lola Campbell und Harris Dickinson, zu sehen im Ciné Utopia.