In Sasha Waltz’ Tanzstück „Twenty to eight“ prallen fünf Mitbewohner aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die kühle Asiatin, der lässige Italiener, der afrikanische Draufgänger, die feurige Latina und das schüchterne WG-Küken. Das Alltagsleben dieser multikulturellen Truppe spielt sich zwischen Küchentisch und Kühlschrank ab. Ein bisschen erinnern das Setting und die Charaktere an den Film „L’auberge espagnole“, in dem sich eine Clique internationaler Studenten um den Küchentisch versammelt, um ein neues Mitglied für ihre WG auszuwählen.
Die Küche – Herzstück der Wohnung
In vielen Familien ist die Küche das Herzstück der Wohnung: Hier trifft man sich nach der Schule oder nach der Arbeit, um über die Geschehnisse des Tages zu reden, Entscheidungen zu treffen und Probleme auszudiskutieren. Für die fünf Tänzer ist die Küche aber auch ein Ort der Entblößung und der Verletzung. Aus der schützenden Sphäre des eigenen Zimmers treten die Tänzer in diesen quasi-öffentlichen Raum, in dem ihre Neurosen, Ängste und Begierden offenbar werden.
Die Tänzerinnen und Tänzer brillieren mit ihrem technischen Können, denn in der Küche wird nicht nur gelacht und gelästert, gestritten und sich wieder versöhnt, sondern vor allem getanzt. Triviale Alltagsgegenstände wie ein Stück Brot oder ein Telefon werden von Sasha Waltz gekonnt in die Choreografie integriert, um die Schönheit der alltäglichen Gegenstände aufzuzeigen, deren Wertschätzung nach Auffassung der Choreografin verloren gegangen ist. Und so verwandeln sich selbst einfache Gesten wie das Öffnen des Kühlschrankes oder das Zuschlagen der Haustür in virtuose Tanzeinlagen.
„Twenty to eight“ ist mit einer kräftigen Prise Humor gewürzt und lässt die Tänzer in grotesken, an die Schauspieler der Stummfilm-Ära erinnernden Bewegungen neurotisch über die Bühne stampfen. Neben dem Humor ist die Aufführung jedoch auch durch die ständig präsente Leidenschaft und Sinnlichkeit der Charaktere geprägt. Über den Küchentisch hinweg tauschen Yael Schnell und Edivaldo Ernesto verheißungsvolle Blicke aus, die in einem leidenschaftlichen Tango münden. Wenig später räkelt sich die Tänzerin in ihrem knallroten Kleid verführerisch auf der Tischplatte, und dem Zuschauer wird ein aufregend inszeniertes Liebesspiel um und auf dem Küchentisch geboten.
In der Küche findet auch die Annäherung zwischen den beiden männlichen Mitbewohnern statt. Und während sich Edivaldo Ernesto nach dem erotischen, gleichgeschlechtlichen Zwischenspiel schlaflos im Bett herumwälzt, steht Davide Camplani wortwörtlich kopf. Die Beine kerzengerade in die Luft gestreckt, der Kopf auf dem harten Stuhl ruhend, verharrt der Tänzer regungslos in dieser Pose, als hätten die Berührungen seines Mitbewohners ihn zur Statue erstarren lassen.
Die Geschichten, die „Twenty to eight“ erzählt, scheinen direkt aus dem heutigen Leben gegriffen zu sein, kein Hinweis deutet darauf hin, dass dieses Stück bereits vor 17 Jahren entstanden ist. Und doch haben wir es hier mit Sasha Waltz’ erster tänzerischer Kreation zu tun: ein Stück, das sie 1993 mit den Tänzern ihrer damals gegründeten Compagnie „Sasha Waltz & Guests“ entwickelt hatte und das bei seiner Uraufführung das Berliner Publikum im Sturm eroberte.
Mit diesem Erstlingserfolg war der Grundstein gelegt für die erfolgreiche Karriere der in Karlsruhe geborenen Tänzerin und Choreografin, die ihr Publikum in den Folgejahren mit Stücken wie „Körper“ und „noBody“ oder den Opernproduktionen „Dido & Aeneas“, „Medea“ oder „Romeo und Julia“ begeisterte.
Ununterbrochene Nachfrage
Trotz des großen Erfolgs ihrer neuen Kreationen erfreuen sich Waltz’ frühe Werke beim Publikum und bei den Veranstaltern einer ungebrochenen Nachfrage, so dass sich im Dezember 2007 eine neue Tänzergeneration aufmachte, um Waltz’ Erstlingswerk wieder auf die Bühne zu bringen.
„Twenty to eight“ ist der erste Teil von Waltz’ „Travelogue-Trilogie“, einer Reihe von drei Stücken, die sich auf eine Reise durch Innenräume begibt. Die von Tristan Honsinger eigens für die Trilogie komponierte Musik trieb das Stück voran, die Tänzer wirbelten durch die Küche und die Szenen steigern sich an Schnelligkeit und Energie, bis der Zuschauer bei der fulminanten Schlussszene nicht mehr weiß, auf welchen der zuckenden und bebenden Körper er seinen Blick richten soll. Zwei Liebespaare finden schlussendlich zueinander, nur für Mamajeang Kim, die in Korea geborene Tänzerin, scheint „Twenty to eight“ kein Liebesglück vorgesehen zu haben. Doch auch sie muss am Ende nicht leer ausgehen, denn der Kühlschrank ist endlich wieder gefüllt.
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