Samstag18. Oktober 2025

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Der Fokus liegt immer auf uns selbst

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Zu sommerlich sei das Foto, mit dem wir seine Kolumne präsentieren, befand Dan Kolber. Deshalb hat er sich ein anderes ausgesucht. Und irgendwie hat er recht: Im klassischen Baseball-Outfit sieht er doch gleich viel authentischer aus. Für zehn Monate ist Dan Kolber als Austauschschüler nach Blackfoot, Idaho, gegangen. Alle zwei Wochen schreibt er fürs Tageblatt...

Die Weihnachtslieder sind verklungen. Der weiße Schnee ist mit braunem Schlamm verschmolzen, Weihnachten ist vorübergezogen wie eine Wolke süßer Glückseligkeit. Abrupt, spurlos, nur wohin?
Wo ist die Liebe hin? Es war ein Schreckensmoment, als ich am Morgen des 26. Dezembers das Radio einschaltete. Da war kein überschwellender, mich sanft umarmender Aufruf zur Liebe mehr, keine pompös-dramatische Schilderung der Geburt von Jesus Christus, die mich mit dem warmen Gefühl erfüllen solte, dass Liebe, ja nur Liebe mein Handeln leiten müsse. Aus den Boxen strömten die samtweichen, anmutigen Klänge von Brahms Ungarischen Tänzen, als wolle man unterschwellig andeuten, dass die Zeit des selbstlosen Altruismus, wo man sich selbst quasi in der Sorge für den Anderen auflösen sollte, vorüber sind.

Wir dürfen wieder tanzen!

Man frönt wider der eigenen Lust, dem eigenen Genuss, Tanzen! Die Zeit der stoischen Enthaltung auf Grund medial übertragener Schuldgefühle ist vorüber! Wir dürfen wieder tanzen!, war das Gefühl, das mich am Nachweihnachtsmorgen überwältigte. Der Marathon karitativer Mitleidsaktionen ist hechelnd seinem Ende zugekrochen. Erschöpft zwingen wir uns noch das letzte „Merry Christmas!“ mit einem Lächeln von den Lippen und sacken am Weihnachtsabend ausgelaugt zusammen, nachdem wir die Weihnachtsmusik und andere Weihnachtsdekorationen noch schnell im verborgensten Abstellraum im Keller abstellen und uns von Weihnachten bis zum nächsten Jahr verabschieden.
Das wars. Der Himmel klärt sich, der Schnee, der wie Puderzucker unsere Weihnachten versüßen sollte, kann beruhigt wieder dahinschmelzen, wir hatten unsere weiße Weihnacht. Uff.

Liebe jeden, dann wird jeder geliebt, auch du

Es ist klar, dass die Idee der Nächstenliebe, die Weihnachten erfüllen soll, eine kostbare ist. Sie verschönert das Zusammenleben, das Leben an sich sogar und verurteilt alles, was dem Gesamten schaden kann. Wie viel schöner wäre die Welt für die Menschen, wenn jeder jedem dabei helfen würde, immer nett zu sein: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst! Wobei das überaus wichtige „wie dich selbst“ meist außen vor gelassen wird, und der Aufruf oft zu einer plumpen, verzerrten Liebesaufforderung degradiert wird, die natürlich leichter zu befolgen ist.
Es handelt sich dann eigentlich um die Verfolgung des gleichen Ziels wie bei der als egoistisch verschrieenen Theorie des „Wenn jeder für sich selbst sorgt, dann ist für jeden gesorgt“, nur mit anderen Mitteln: „Wenn jeder für den anderen sorgt, dann ist für jeden gesorgt.“ Liebe jeden, dann wird jeder geliebt, du auch. Es ist also in sich selbst eine Art Egoismus, die unseren weihnachtlichen Altruismus antreibt; so erklärt man seinen Kindern die Ethik der Nächstenliebe gerne mit dem Analogismus: „Stelle dir vor du befindest dich eines Tages selbst in dieser bedauernswerten Situation. Du wärest auch froh, wenn man dir helfen würde. Sei nett zu anderen, und sie sind nett zu dir.“ Diese Logik, deren Zweck immer wieder das eigene Wohlbefinden ist, beschreibt in sich selbst eigentlich schon eine bittere Wahrheit: der Fokus liegt immer auf uns selbst.

Eine der ehrlichsten Aussagen unserer westlichen Gesellschaft

Und es ist wohl nicht umsonst so, dass wir dieses ganze Prinzip der Nächstenliebe in der Weihnachtszeit schon fast bis zum Exzess zelebrieren, um es dann bis zum nächsten Jahr symbolisch im Keller zu verstauen: Wir forcieren uns, für kurze Zeit einen romantischen, rauschartigen Traum zu leben.
Jeder ist doch froh, wenn dieses ganze weihnachtliche Liebes-Geschwafel vorbei ist. Jeder hasst doch irgendwo in sich die Weihnachtsmusik, genauso wie jeder sie irgendwie liebt. Weihnachten zeigt deutlich das Spiel zwischen Idealvorstellung und Realität, Schein und Wirklichkeit, das die Menschheit seit jeher hin und her reißt. So ist das Zelebrieren von Weihnachten in seiner Hypokrisie dennoch vielleicht eine der ehrlichsten Aussagen unserer westlichen Gesellschaft.
Weihnachten ist das Geständnis, dass Nächstenliebe kein permanentes Lebensgefühl sein kann, dass wir zwar alle wohl irgendwo den guten Willen haben und wissen, dass Nächstenliebe ja an sich eine revolutionierende Idee ist (deshalb dieses ganze Getöse rund um Weihnachten: jeder kann einen Monat lang mal so gut sein, wie er es sonst nie ist), aber im Endeffekt ist doch jeder froh, wenn es wieder vorüber ist.
Wir feiern eine Idee, es ist wie ein Spiel: Wie wäre es, wenn jeder für einen Monat besonders an seine Mitmenschen denken würde und es nur darum gehe, andere zu beschenken, andere anzulächeln, ihnen Gutes zu wünschen. „Merry Christmas“.
Es ist schön, für fast einen Monat. Danach dürfen wir wieder Mensch sein.