Alain spannt den BogenDas Quatuor Diotima spielt Ligeti und Janácek, das OPL „Falstaff im Krankenhaus“

Alain spannt den Bogen / Das Quatuor Diotima spielt Ligeti und Janácek, das OPL „Falstaff im Krankenhaus“
Das Quatuor Diotima hat für Alain Steffen das beste Kammerkonzert des Jahres vorgeführt Foto: Alfonso Salgueiro

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Mit dem Janácek-Ligeti-Konzert des französischen Quatuor Diotima und der Aufführung von Verdis letzter Opper „Falstaff“ erlebte das Publikum zum Jahresende noch zwei bemerkenswerte Konzert- bzw. Opernerlebnisse.

Müsste ich jetzt das beste Kammerkonzert des Jahres 2023 benennen, so würde meine Wahl ohne Zweifel auf das Konzert mit dem Quatuor Diotima fallen. Das französische Streichquartett spielte am vergangenen Mittwoch die beiden Streichquartette von Leos Janácek und die beiden Streichquartette von György Ligeti. Kein Programm also, das die Massen anlockt – das merkte man an den vielen leeren Plätzen im Kammermusiksaal –, das aber unheimlich interessant, spannend und lehrreich für all jene Zuhörer war, die an diesem unvergesslichen Konzertabend teilgenommen hatten. Unvergesslich, weil das Quatuor Diotima zeigte, wie musikantisch man Ligetis Quartette aus den 50er- bzw. 60er Jahren spielen konnte, ohne dabei auf eine konsequent analytische und strukturbetonte Interpretation zu verzichten. Und wenn sich dann wie hier Ausdruck und Anatomie einer Musik zu Klang verbinden, dann nimmt man als Zuhörer an einer ungemein spannenden Musikreise teil.

Es gefiel, dass die vier Musiker die beiden Werke nicht aus der Distanz betrachteten und ihre, sagen wir mal, objektive Leseart mit einem Maximum an Herzblut, Engagement und Expressivität ausfüllten. Dabei war das Zusammenspiel perfekt, jedes Instrument hatte seine Aufgabe und trotz dieser individuellen Sichtweise fügten sich die vier Stimmen zu einem homogenen, immer wieder explosiven und dann wieder intimistisch feinen Klanggebilde zusammen.

Bei Janácek verhielt es sich dann umgekehrt. Hier stand die Expressivität im Vordergrund, wurde aber durch eine minutiös ausgearbeitete und in den Linien sehr klare und transparente Interpretation in eine eher moderne Richtung gelenkt. Doch auch bei diesen beiden Quartetten von Janácek aus den Jahren 1926 und 1928 verschmolzen Form, Ausdruck und Spielstil zu einem großen, atemberaubenden Klangerlebnis, das jeden im Saal tief berührte. Und gerade diese lebendige und stimmungsvolle Wiedergabe der beiden Streichquartette von György Ligeti zeigte sehr deutlich, dass moderne bzw. zeitgenössische Musik durchaus bezaubern kann und eine Chance im Konzertsaal hat, wird sie so wunderbar und intensiv gespielt, wie es das Quatuor Diotima an diesem Abend gezeigt hat.

Lebendiges Musiktheater

Drei Aufführungen von Verdis letzter Oper „Falstaff“ gab es im hauptstädtischen Theater als Neuproduktion der Opéra de Lille zusammen mit den Théâtres de la Ville de Luxembourg und dem Théâtre de Caen. Regisseur dieser Neuinszenierung (Premiere am 4. Mai 2023) ist Denis Podalydès, der die drei Akte in einem heruntergekommenen Krankenhaus der 30er- oder 40er-Jahre spielen. Was auf den ersten Blick Fragen aufwirft, entwickelt sich aber schnell zu einem schlüssigen Konzept, bei dem der nervige „Oberpatient“ Falstaff einer Lipektomie unterzogen werden soll. Wie man das jetzt zu deuten hat, ist jedem selbst überlassen, aber Podalydès’ Schluss lässt zumindest eine psychologische Deutung zu. Er ist zudem ein hervorragender Ideengeber in Sachen Bewegung auf der Bühne und Zusammenspiel der Sänger, sodass diese moderne Inszenierung von Anfang bis Ende klappt, ohne je Verdi oder den Librettisten Boito zu hintergehen, und die Geschichte in jedem Moment zu verstehen ist. So gut kann modernes Musiktheater sein.

Dirigent Antonello Allemandi hält die Zügel fest in der Hand und lässt das Luxembourg Philharmonic in unserer Aufführung vom 30. November zur Höchstform auflaufen. Die Musiker spielen temperamentvoll und präzise, das Klangbild ist offen und der Klang kann sich sehr frei entfalten. Dank der Schule von Krivine und Gimeno hat das Orchester kein Problem damit, Akzente zu setzen und sofort auf den Punkt zu kommen, was dem rhythmisch geprägten Dirigat Allemandis sehr entgegenkommt. Alle Partien sind gut bis hervorragend besetzt, vor allem besticht die tolle Ensembleleistung. Und auf die kommt es beim „Falstaff“ an, da es in dieser Oper bekannterweise keine Arien, Duette, Chöre oder sonstige Nummern gibt. „Falstaff“ ist eine durchkomponierte Oper in melodiös-rezitativartigem Parlandostil, was ihren besonderen Reiz, aber auch ihre besondere Herausforderung ausmacht.

Das Sängerteam muss exakt aufeinander eingestimmt sein und Möglichkeiten, individuell zu glänzen, gibt es kaum. Elia Fabian ist ein stimmpotenter und zugleich flexibel gestaltender Falstaff, ein idealer Interpret für diese Rolle. Sowohl den tragischen als auch den komischen Charakter dieser Rolle weiß er voll auszuspielen, ohne die Figur je zu überzeichnen oder lächerlich zu machen. Denn eigentlich ist Falstaff in seiner tragischen Noblesse auch ein Verwandter von Don Quichotte und Oliver Hardy. Gezim Myshketa als sein Gegenspieler Ford steht ihm an Darstellungs- und Singkraft in nichts nach. Der etwas dünne Tenor von Kevin Amiel geht neben diesen stimmgewaltigen Sängern etwas unter, kann aber im Zusammensiel mit der schön gesungenen Nannetta von Clara Guillon mit angenehm lyrischen Tönen punkten. Bühnenbeherrschend ist Sylvia Beltrami als Strippenzieherin Mrs Quickly, deren Stimme exakt zu der darzustellenden Figur passt. Ebenfalls herausragend: Gabrielle Philiponet als Alice Ford. Die übrigen Protagonisten sind mit Julie Robard-Gendre (Meg Page), Luca Lombardo (Dr. Caius), Loïc Félix (Bardolfo) und Damien Pass (Pistola) sehr gut besetzt. Wie schon gesagt, es war das gesamte Ensemble, das diese Aufführung von „Falstaff“ von der ersten Sekunde bis zur Schlussfuge zu lebendigem Musiktheater machte.