RecherchetheaterBühnenreif in 26 Szenen: Autor und Regisseur Calle Fuhr bringt den Klimawandel ins Theater

Recherchetheater / Bühnenreif in 26 Szenen: Autor und Regisseur Calle Fuhr bringt den Klimawandel ins Theater
Der Theatermacher Calle Fuhr auf der Bühne des Kasemattentheaters, wo er sein Stück „Alphabet“ inszeniert Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Der Klimawandel ist vor der Tür, ist omnipräsent. Doch wie bringt man ihn auf die Bühne eines Theaters, wenn er sich nicht mit den üblichen Narrativen darstellen lässt? Indem man diese hinterfragt und zum freieren, assoziativeren Erzählen übergeht – wie es der Autor und Regisseur Calle Fuhr mit seinem Stück „Alphabet“ im Kasemattentheater zeigt.*

Eine Frau telefoniert mit ihrem Neffen. Die beiden haben lange nichts mehr voneinander gehört. Die Tante lebt im Ahrtal. Sie telefonieren während der Hochwasserkatastrophe vor drei Jahren. Die Frau schildert dem Neffen, was gerade geschieht und wie furchtbar es ist. Sie sagt ihm aber auch, wie schön sie es findet, dass gerade so viele Menschen einander helfen. Das Gespräch handelt von zwei Menschen, die zueinander auf Distanz gegangen waren und durch dieses Telefonat kurz wieder zusammenfinden.

Mit dieser Szene beginnt „Alphabet“. In der nächsten geht es um eine Anwältin. Es ist Roda Verheyen, die als Vertreterin von peruanischen Bauern und des Bergführers Saúl Luciano Lliuya 2015 gegen den Energiekonzern RWE klagte. Sie erzählt von ihrer Klage. Insgesamt sind es 26 Szenen, basierend auf einem vor zwei Jahren erschienen Artikel von Elizabeth Kolbert in der Zeitschrift New Yorker. Die US-Publizistin hatte ein Klima-Alphabet verfasst: In 26 Abschnitten – einen für jeden Buchstaben des Alphabets – führte sie die Leser auf eine Reise durch die Geschichte des Klimawandels und die Ungewissheiten unserer Zukunft.

26 Mosaiksteine 

Wie Kolbert, die sich bewusst war, dass sich die Klimakrise nicht in einer Reportage erzählen lässt, setzten Calle Fuhr und der Dramaturg Matthias Seier, mit dem er schon häufig zusammengearbeitet hat, 26 Theater-Miniaturen wie Mosaiksteine aneinander und stellten Querverbindungen her. „Matthias und ich hatten den Artikel im New Yorker unabhängig voneinander gelesen“, erinnert sich Calle Fuhr. „Wir sahen darin einen Ansatz für die Bühne. Wir nahmen die 26 Versatzstücke. Es sind 26 Impulse. Das erinnert vom Aufbau her an eine Theaterrevue, Nummer für Nummer.“ Er habe darauf geachtet, „dass es dramaturgische Verknüpfungen gibt, damit es einen Drive hat“. Der große Vorteil sei, fügt er hinzu, dass man auf diese Art „lustvoll erzählen“ könne. „Dass man sich nicht einfach 90 oder 100 Minuten ins Theater setzt, sich das Stück anschaut und anschließend sagt: Das ist echt schlimm, richtig krass. Und dann nach Hause geht und weitermacht wie bisher.“

Bei unserem Gespräch im Bühnenraum drei Tage vor der Premiere erklärt er, dass dieser Theaterabend ein Versuch sei, sich mit dem „hermetischen Raum, den die Klimakrise in uns besetzt“, auseinanderzusetzen und zu zeigen, dass es durchaus Lösungen gebe und die Menschen vor schweren Entscheidungen stünden. Matthias Seier formuliert es so: „Ein Abend von A bis Z also, der das Thema nie vollständig umfassen kann. Und es gerade deshalb versucht.“ In einer Szene geht es um CO2: „Wir zeigen eine Werbeagentur, deren fossiler Kunde wieder gut dastehen möchte. Denn die Klimakrise ist ein echtes Problem für ihn. Wie schafft man es, dass man ihn wieder gut findet? In diesem Fall geht es um Greenwashing.“

Doch die Werbeagentur verschwindet nicht einfach wieder nach einem Buchstaben, sondern taucht nach mehreren Buchstaben wieder auf. So wie die Tante aus der ersten Szene. „Kleine Fäden werden miteinander verwoben, am Schluss ziehen wir viel zusammen. In diesem Mosaik sieht man, dass dieser und jener Teil zusammengehören“, sagt Calle Fuhr. „Manche Mosaikstücke bleiben lose, viele führen wir wieder zusammen. Der Abend funktioniert wie ein Rätsel. Wenn C für CO2 steht, dann H für Hoffnung.“

Calle Fuhr schätzt das Kasemattentheater als „wahnsinnig offen“. Vor fünf Jahren, als er hier das Stück „Jockey“ inszenierte, habe Dramaturg Marc Limpach bei einer Probe zugeschaut und vor der Premiere zu ihm gesagt, er könne jederzeit wiederkommen. „Das ist eher untypisch. Normalerweise wartet man ab, wie es das Publikum aufnimmt und die Kritiken sind“, sagt der Regisseur. „Dass mir so ein Vertrauensvorschuss gegeben wurde, fand ich klasse.“ Er ist dem Kasemattentheater treu geblieben.

Bühnenkosmos statt Altgriechisch

Angefangen hat Calle Fuhr in seiner Heimatstadt Düsseldorf. „Das war ein Riesenzufall. Ich war dort im Jugendclub, dessen Leiter zugleich Regieassistent war.“ Dieser habe spontan gekündigt, erinnert sich der heute 30-Jährige. „Er meinte zu mir, ich solle mich bewerben. Damals war ich noch 18 und hatte keine Ahnung, was ein Regieassistent macht. Ich sagte das auch. Aber ich hätte große Lust. Und ich sagte, dass ich einen Führerschein hätte. Mit 18 hat man schließlich nicht so viel vorzuweisen.“ Calle Fuhr lacht. Er habe auf Probe angefangen. Das Theater habe ihm so viel Spaß gemacht, dass er schließlich blieb.

Calle Fuhr
Calle Fuhr Foto: Editpress/Hervé Montaigu

„Nach einem Jahr überlegte ich mir, vielleicht doch zu studieren, unter anderem um aus Düsseldorf rauszukommen“, erzählt er. „Ich schrieb mich für Gräzistik an der Humboldt-Uni in Berlin ein, weil Altgriechisch mein Lieblingsfach in der Schule war. Aber ich merkte relativ schnell, dass der Uni-Alltag gar nicht so meines ist. Ich vermisste das Arbeiten im Betrieb mit Leuten aus allen Generationen und Schichten. So ging ich im Jahr darauf nach Wien ans Volkstheater und wurde wieder Regieassistent. Ich blieb zwei Jahre dort und arbeitete danach drei Jahre freiberuflich als Regisseur.“ Zum ersten Mal hatte er auf der Studiobühne der Ernst-Busch-Hochschule für Schauspielkunst in Berlin Regie geführt, dann mit 21 Jahren am Wiener Volkstheater, wohin er 2020 zurückkehrte und zum Leitungsteam des Hauses gehörte. „Im Theaterbetrieb spürt man eine Selbstwirksamkeit. Es ist zugleich wie eine Weltreise. Du bist sechs Wochen in der einen Welt, dann kommt die nächste.“

Über „Alphabet“ sagt er, dass er schon seit Jahren versucht habe, „die Klimakrise irgendwie auf der Bühne verhandelt zu bekommen“. Dass dies sehr schwierig ist, wurde ihm schnell bewusst: „Wenn man sich so anschaut, was da oft versucht wird, geht man nicht inspirierter raus. Das sind dann so schwere Abende, die einem sagen, dass wir untergehen und dagegen etwas tun müssen. Aber wir tun es nicht. Was bringt das? Einfach nur aus handwerklichem Ehrgeiz heraus versuchen, etwas auf die Bühne zu bringen, ist nicht unsere Aufgabe. Das ist L‘Art pour l’art. Das langweilt und nervt. Wenn man sich aber überlegt, wie man es umsetzt, kommt man schnell darauf, dass es sowohl abstrakt als auch gleichzeitig überall ist.“ Er zitiert den US-Philosophen Timothy Morton, der die Klimakrise als „Hyperobjekt“ beschrieb: „konstant präsent, überall drin, aber nicht greifbar“.

Invasive Tierarten

Er habe verschiedene Ansätze ausprobiert, das Thema anzugehen, sagt Calle Fuhr. Etwa in Wien ein Projekt mit Klimaaktivisten, dann mit einem Protestcamp in der Lobau, dem Auengebiet an der Donau. „Es gab einen Anschlag auf das Camp. Es wurde angezündet. Leute wurden verletzt. Zum Glück ist niemand gestorben“, erzählt er. „Es blieb ungeklärt, aber höchstwahrscheinlich waren es Rechtsradikale.“ Er arbeitete viel mit investigativen Journalisten zusammen, in Österreich mit der Rechercheplattform Dossier, in Deutschland mit Correctiv. „Da schauten wir uns die fossilen Bösewichte an.“ Dazu zählen Konzerne wie der Stromerzeuger LEAG oder der Energieriese OMV.

In „Alphabet“ geht es unter dem Buchstaben Q wie Quereinsteiger um invasive Tierarten: Eine Süßwasserqualle, ein Borkenkäfer und ein Tigermoskito kommen auf die Bühne und erzählen, dass sie diesen Klimawandel für eine Supersache halten. Sie finden durch ihn einen neuen Lebensraum. Sie sind Krisengewinner. Die Menschen bezeichnen sie als invasiv, dabei machen sie seit vielen Jahren dasselbe: Sie dringen in fremde Lebensräume ein.

Manches kommt mit einem Augenzwinkern daher. Doch in der Satire, in der Komik, liegt der bittere Ernst – und vor allem die Wahrheit. Die Satire zweifelt die Autorität der Mächtigen an. „Diese leben von der Autorität“, sagt Calle Fuhr. „Wenn wir sie anzweifeln, schwimmen ihnen die Felle weg. Da hat das Theater, insbesondere das Volkstheater, eine sehr lange Tradition.“ Er kommt auf Aristophanes zu sprechen, der sich über die Götter lustig gemacht hatte, bis hin zu den österreichischen Dramatikern wie Johann Nestroy und Ferdinand Raimund, den großen Schriftstellern. „Gerade den Humor, den Mächtigen ans Bein zu pinkeln, haben wir gerade verloren“, stellt er fest. „Wir versuchen, alles richtigzumachen, was prinzipiell eine schöne Sache ist. Aber der Eros, der Spaß, geht verloren.“ Und weil er Spaß hatte, war er ans Theater gegangen, erklärt Calle Fuhr: „Was für ein verrückter Raum! Was darf man hier alles machen! Das ist ja irre, und wir werden auch noch bezahlt dafür. Ich darf mir Quatsch ausdenken und probiere ihn mit Profis ein. Eigentlich ist das utopisch.“

Investigative Recherche

Calle Fuhr hat das Recherchetheater für sich entdeckt. Kürzlich zeigte er in Wien eine Arbeit über René Benko, den Unternehmer, Investor und Immobilienmogul (Galerie Karstadt, Kaufhof). Die Insolvenz seines Konzerns Signa gehört zu den größten Pleiten in der österreichischen Geschichte. In „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ steht er allein auf der Bühne. Mit dem Benko-Abend knüpfte er an den Korruptionskrimi „Das Kraftwerk“ in Zusammenarbeit mit Correctiv, an den Recherchethriller „Die Redaktion“ mit Dossier oder an „Tiefenbohrung“ an, laut Programmheft ein „Wochenende über postfossile Narrative“.

Er spekuliere darauf, „dass der Wirtschaftsteil über Theater schreibt und das Feuilleton über Wirtschaft“. Da fange etwas an aufzubrechen – was ihm gefällt. Er mache quasi das Gegenteil von dem, was viele Leute in Klassikern suchen: „Sie fragen sich, wo Klassiker heute noch aktuell sind, und ich frage, wo in dem Aktuellen das Größere ist.“ Klar, Benko wiederholt sich, ihn gab es schon in den Klassikern. Calle Fuhr geht es darum, „zu suchen, wo der Klassiker im Aktuellen ist“. Zu den Aufführungen seiner Stücke kommen Wirtschaftsbosse, Politiker neben Schülern und Leuten aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Ihm geht es nicht um Provokation. „Was könnte mich noch provozieren?“, fragt er und gibt gleich die Antwort: „Vielleicht zu zeigen, dass etwas gar nicht so hoffnungslos ist.“

* Vorstellungen am 6., 8., 9., 10., 12. und 14. Juni jeweils um 20 Uhr.