Computer weinen nicht: „Deep Fake“ von Cleo Konrad

Zuerst einmal muss man Verlag wie Autorin dafür beglückwünschen, dass sie mit „Deep Fake“ eines der Schlagwörter der Stunde als Buchtitel sichern konnten! Und gleich danach sollte der Hoffnung Ausdruck verliehen werden, dass ein Text mit derart griffiger Überschrift bitte, bitte nicht bloß wieder Konfektionsware sei! Und, so viel sei zumindest verraten: Ist er auch nicht. Sondern vielmehr ein spannendes Stück Genreliteratur über die Abgründe des Internets und deren Folgen.
Worum geht es? Zum einen um eine Lehrerin in Berlin namens Mira de Luca, die ihre liebe Not mit ihren heftig pubertierenden Schülerinnen und Schülern hat. Zum anderen behandelt „Deep Fake“ zwanzig Jahre alte Tagebucheinträge einer gewissen Kat, die eine ganze Weile die Leserinnen und Leser von Cleo Konrads Roman mit der Frage beschäftigen, wie der eine zeitverschobene Handlungsstrang mit dem anderen, ungefähr in der Jetztzeit angesiedelten in Verbindung gebracht werden könnte.
Der erste Hinweis ist ein Ortsname: Tannwinkel. Ein Dorf in der hintersten, düstersten Ecke des bayerischen Waldes, das nachts so öde ist, „dass sogar die Geister die Flucht ergreifen“. Vor Jahren konnte Mira der Tristesse entfliehen. Aber genau dorthin zog die sechzehnjährige Kat nach dem Unfalltod ihrer Mutter mit dem Vater. Sie fühlt sich isoliert, der einziger Austausch scheint mit „Dya“ zu funktionieren – einem Tagebuch, das sie sich als Datei auf ihrem PC angelegt hat. Für Kat ist die Hölle „kein Ort, sondern ein Zustand, tief in Dir drin, eine Finsternis, die Dein Herz zerdrückt“. Wenn es nach ihr ginge, würde sie „nur noch aus Nullern und Einsern bestehen“, denn „Computer weinen nicht“.
Rufmord
In Berlin erlebt Mira ihr ganz persönliches Armageddon, als über die sozialen Medien eine üble Filmdatei angeblich mit ihr in höchst verfänglicher Situation die Runde macht. Schüler und Kollegen sind entsetzt, der Internetbeauftragte an der Schule klärt auf: „Deepfake, darüber hab ich gelesen. Da füttert man einen Computer mit verschiedenen Bildern einer Person, und mithilfe von künstlicher Intelligenz wird dann das Gesicht der Person über ein anderes gelegt. Face Swapping nennt sich das wohl.“ Eine digitale Weiterentwicklung von Fälschungen in Form von Fotomontagen also. Und dass Bilder genauso lügen können wie Worte, ist eine Binsenwahrheit.
Doch der ganze Internet-Hokuspokus, für den „Deep Fake“ nur eine Bezeichnung unter vielen ist, basiert nahezu ausschließlich auf einem atavistischen Reflex. Jenes in Augenschein-nehmen-und-sich-dadurch-von-der-Echtheit-der-Dinge-vergewissern, das noch immer dazu führt, dass man dem Bild vom Menschen mehr Glauben schenkt als den Beteuerungen des Menschen selbst. Und so muss sich Mira in Cleo Konrads Roman auf die Suche nach den Urhebern des Deepfakes machen, der ihre berufliche Existenz bedroht. Wobei sie buchstäblich in die Erlebniswelt ihrer Jugend zurück nach Tannwinkel reist.

Der Körper reagiert
Das Wiederaufleben von Miras Jugenderinnerungen wird ihr „Inneres in den Grundfesten erschüttern“. Womit wir nicht nur im Kern des „Deep Fake“-Romans, sondern bei dem zentralen Thema von Spannungsliteratur insgesamt, angekommen wären: dem Kontrollverlust, der bei Mira körperlich als freier Fall – „durch das Parkett, die drei Stockwerke unter ihr hindurch, in den Keller, hinab auf den Erdboden“ – beschrieben wird. Schaut man sich an, wann Thriller als Subgenre auftauchten – kurz nachdem mit Edgar Allen Poes Geschichte vom „Doppelmord in der Rue Morgue“ (1841) analytisches Denken in die Literatur Einzug hielt und der Krimi als literarische Gattung aus der Taufe gehoben wurde –, versteht man, wie Cleo Konrad ihr topaktuelles Thema verarbeitet hat.
Thriller kamen als eine Art Schlagschatten von Krimis in Mode. Als das, was im rationalen Diskurs unter den Tisch fällt, im Dunkel bleibt. Was an Trieben und Ängsten der auf logischen Schlussfolgerungen basierenden Aufklärung von Verbrechen zuwiderläuft. Dass Thriller wie „Deep Fake“ via Happy End versuchen, die Kontrolle über Körper und das Leben insgesamt wiederzuerlangen, ändert nichts an ihrer grundlegenden Konzeption, Verstörung und Desorientierung als Erzählung fassbar zu machen.
Die Geschichte der Anna O.
Bleischwer liegt die Nacht über London. Den Leserinnen und Lesern von „Anna“, Matthew Blakes neuem Roman, schwant nichts Gutes. „Die Schlafklinik ‚The Abbey’ befindet sich an einer unauffälligen Straßenecke der Harley Street in einem Backsteingebäude aus der edwardianischen Zeit, in dem eine sehr diskrete Atmosphäre herrscht.“

Hierin wird der forensische Psychologe Benedict Prince von seiner Chefin außerhalb seiner Arbeitszeit gerufen, um sich im Fall der Patientin Anna O. mit einem höchst verstörenden Faktum zu befassen. Seit dem Mord an Indira Sharma und Douglas Bute auf einer Event-Farm in Oxfordshire vor vier Jahren befindet sich die Tatverdächtige Anna O. im Tiefschlaf. Prince, der Psychologe, soll sie aufwecken. Weil man gegen eine Mörderin im Dornröschen-Modus keinen Prozess führen kann und somit die Gefahr besteht, dass der Doppelmord ungesühnt bleiben wird. Durchaus seriös mutet die Idee an, auf welcher Blakes Buch aufbaut: „Im Durchschnitt schläft der Mensch dreiunddreißig Jahre seines Lebens. In der Antike betrachtete man den Schlaf als eine Form des Todes. Dichter haben Hymnen auf den Schlaf verfasst, ihn als zweites Leben besungen. Doch was geschieht wirklich, wenn wir schlafen?“ Unterscheidungen zwischen Somnambulismus, Parasomnie und Katatonie werden aufgeworfen, aber ebenso wenig vertieft wie der Gedanke an die Schuldfähigkeit von Menschen, die sich aus dem Wachzustand in eine permanente Bewusstlosigkeit verabschiedeten.
Aber weil „Anna“ keine thematische Abhandlung, sondern ein Thriller sein soll, ist zu vermuten, dass die Hinweise auf die verschiedenen Aggregatzustände von Bewusstsein (oder Unbewusstheit, je nachdem!) Mittel zum Zweck sein sollen. Denn dem Subgenre Thriller ist der Hang zu Mysterien quasi inhärent! Und Blake stapelt geradezu seitenweise die Geheimnisse! Wohl auch, um zu kaschieren, dass sein Roman auf dem uralten Motiv vom Mordverdächtigen basiert, der mit dem blutigen Messer neben der Leiche entdeckt wird. Aber weil, wie Blake vermerkt, „das Ganze (…) nie ein Krimi, jedenfalls nicht im strengen Sinn, sondern eine Rachetragödie“ sein soll, wird ein Arsenal an Nebelkerzen abgeschossen, um dem klassischen Whodunnit möglichst viele Kanten und Wendungen beizubringen. Am Ende des Verwirrspiels werden die losen Fäden, die aus der Handlung hängen, zu einem sinnvollen Muster verknüpft. Matthew Blake schafft dies sozusagen mithilfe eines erklärungstechnischen Drahtseilakts, der auch gehörig hätte schiefgehen können. Und dafür gebührt ihm Respekt!

De Maart
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