In unserer Rubrik Klangwelten werden regelmäßig Alben rezensiert. Diese Woche bieten wir eine Mischung aus fremden, poetischen, experimentellen und epischen Klängen. Unsere Musikspezialisten haben sich die neuesten Alben von Lebanon Hanover, John Carter Cash, den Fantastischen Vier und Blues People angehört.


Fremd
von Yves Greis
Lebanon Hanover sind Musik gewordene Traurigkeit. Vor sieben Jahren tauchten Larissa Iceglass und William Maybelline das erste Mal als Dark-Wave-Duo in Erscheinung und seitdem sind die Schweizerin und der Brite zu Lieblingen der Schwarzen Szene geworden. Als die Band beim Wave-Gotik-Treffen 2017 in Leipzig in einem der besten Slots bei gefühlten 50 Grad Celsius Raumtemperatur im alten Stadtbad auftrat, war der riesige Raum (immerhin ein ehemaliges Hallenbad im Jugendstil) mehr als prall gefüllt.
„Sadness is Rebellion“ singt Iceglass auf dem 2013er-Album „Tomb for Two“ und Lebanon Hanover schreiben die Hymnen für diese Rebellion. Die Songs sind schwer, düster, melancholisch, traurig und schön. Die Stimme von Iceglass ist kühl und eindringlich. Die Musik von Maybelline ist monoton und basslastig. Die Texte expressionistisch. Nicht nur wie sich die Künstler präsentieren, macht, dass man sich sofort an den Post-Punk erinnert fühlt.
Lebanon Hanover beschreiben in den Liedern die hässliche Realität. Vergänglichkeit, Suizid, Emotionslosigkeit, Kunst und Zerfall sind Themen, die die Band thematisiert. „Bist du hier bei uns oder auf der Plattform für Psychopathen?“, fragen Lebanon Hanover in einem Song auf der neuen Scheibe Let Them be Alien. „Katapultiert mich weg von hier; Weit hinauf in das All; Ich möchte heute nicht mehr sein; Ich will in viele Teilchen zerfallen“, heißt es im Song „Gravity Sucks“, in dem das Duo sich untypischerweise ein Saxofon gönnt.
„Die Welt, in der wir leben, ist zum Kotzen“ scheint eine zentrale Aussage im Werk der Band zu sein (und wer könnte das Gegenteil behaupten), ohne dass die Texte dabei pathetisch, kitschig oder – was am schlimmsten wäre – pubertär wirken. Mit „Let Them be Alien“ schreiben Lebanon Hanover diese Tradition fort und enttäuschen nicht die hohen Erwartungen, die man mittlerweile in die Band haben darf. Mit vielen Konzerten ist in diesem Sommer wohl (leider) nicht zu rechnen. Ihren Auftritt auf dem belgischen W-Fest hat die Band abgesagt, da Sängerin Larissa Iceglass zu diesem Termin wahrscheinlich Mutter wird.
Anspieltipps: My Favorite Black Cat, Du Scrollst, The Silent Choir


The Poet in Black
von Tom Haas
Im Februar erschien das Buch „Forever Words: The Unknown Poems“ von Johnny Cash quasi als Teaser, am 6. April folgte dann die Scheibe, auf der einige Texte vertont wurden. Auch wenn man gerade im Country zweifelsfrei von einer elaborierten Verkaufsstrategie ausgehen kann, so hat sich John Carter Cash dem Werk seines verstorbenen Vaters so einfühlsam und respektvoll genähert, dass das Werk völlig frei vom Klang der Gefälligkeit daherkommt. So wie Cash die Stücke anderer Künstler wie Depeche Mode auf seine Weise interpretierte, so nähert sich jeder Musiker den Texten des Man in Black auf seine Art. Herausgekommen ist ein nuanciertes, vielfältiges Werk, das quer durch die Genres der zeitgenössischen Popmusik streift, von Country über Folk und Rock zu Hip-Hop – und trotzdem hält die ständige Präsenz der schnörkellosen Lyrik Cashs die Komposition zusammen.
Natürlich stechen einige Stücke auf der Platte hervor und stellen andere in den Schatten – Chris Cornells „You never knew my mind“ ist eine Grunge-Ballade geworden, so eindringlich und kraftvoll wie Kurt Cobains Interpretation von „Where did you sleep last night“ 1995 in New York. Aber auch Robert Glaspers Jazz-Hip-Hop-Mix „Goin‘, Goin‘, Gone“ ist eine völlig unerwartete und gelungene Kontextualisierung des Helds von St. Quentin. Und „To June this Morning“ von Ruston Kelly und Kacey Musgraves, spartanisch instrumentiert mit Gitarre und Banjo, ist ein Folk-Liebeslied allererster Güte.
Über die Ausgewogenheit lässt sich streiten, denn neben den genannten Juwelen finden sich auch Songs auf der Platte, auf die man verzichten könnte. Gerade wenn es in Cashs ureigenes Territorium geht, müssen sich die Aspiranten mit dem Großmeister messen – oft zu deren Ungunsten.
Brad Paisleys „God all over the Ground“ fällt recht kraftlos aus, plätschert uninspiriert vor sich hin, Dailey & Vincent machen aus „He Bore it All“ ein Klamaukstück, das auch in die Tex Avery Show passen würde. Und doch, trotz dieser einzelnen schwachen Momente, ist „Forever Words“ ein Album, das jedem, der den Man in Black vermisst, uneingeschränkt zu empfehlen ist.
Anspieltipps: Goin’, Goin’, Gone; You Never Knew My Mind


Experiment geht weiter
von Oliver Seifert
Mittlerweile sind die Hip-Hopper der Fantastischen Vier, vor fast 30 Jahren mit ausschließlich guten Absichten gegründet, Teil eines (Selbst-)Experiments, das der Frage nachgeht, ob sich mit Sneakers am Fuß und Basecap auf der Rübe in Würde altern lässt. Denn die Mitglieder sind um die 50 Jahre alt, quasi voll krasse Opis in dieser so voll krassen Jugendkultur. Doch Smudo, Thomas D, Michi Beck und And.Ypsilon haben noch lange nicht vor, in Rente zu gehen. Dieser Durchhaltewille ist an sich sehr respektabel, aber wo bleibt die Kunst dabei, hat sie noch Relevanz?
Sicher, es ist auf ihrem zehnten Album alles da, von Fun- bis Aggro-Rap, alter bis neuer Schule, Club bis Stadion, Disko-Rhythmen bis Pop-Melodien, verwegenen Wortspielen bis rumpeligen Reimen, von allem etwas, aber nichts, was vom Hocker haut. Routiniert und fleißig erarbeiten sich die vier Schwaben ihre 16 Stücke, die musikalisch meist in die Vergangenheit schweifen und textlich nicht selten die eigene Virilität bejubeln. Der Retro-Sound ist auf 80s getrimmt, mit verhallten Beats, signalschrillen Synthies, schlumpfigen Vocoder-Effekten, wie aus einer fernen, bizarren Zeit, die es noch einmal in ihren technoiden Zukunftsoptionen wiederzubeleben gilt. Dabei stehen, geht es Richtung Elektro, Deichkind mit ihrer Art der Vergangenheitsbewältigung Pate („Tunnel“), geht es Richtung Pop, Phoenix („Zusammen“ oder „Hitisn“).
Es entsteht durchaus gefällige Unterhaltung, die manchmal ausbricht. Wenn in „Endzeitstimmung“ die Drums stampfen und die Gitarrenriffs jaulen, dann wird in einem Rundumschlag mit Nationalismus, sozialer Ungleichheit, Populismus, religiösem Fanatismus abgerechnet. Oder wenn der Minimal-Track von „Das ist mein Ding“ zur freakig-scratchigen Stotterei wird.
Solche sympathischen Irritationen sind leider rar. Stattdessen eine Klavier-Streicher-Ballade wie „Weitermachen“, die am Ende Mut machen will, aber eher Frust hinterlässt. Was ergo als tröstliche Einsicht bleibt: Musik von Belang lässt sich nicht erzwingen, auch nicht von älteren Herren in ihrem jugendlichen Leichtsinn.
Anspieltipps: Hitisn, Endzeitstimmung, Aller Anfang ist Yeah, Das ist mein Ding


Epischer Jazzrock
von Pol Belardi
Allem voran: der Titel des Albums ist nicht wörtlich als Stil-Beschreibung im traditionellen Sinne zu verstehen. Wer Blues People zum ersten Mal hört, der ist vor allem durch den druckvollen Sound und die ausgelassenen, zum Teil aggressiv-rockigen Klänge angetan.
Nach einer gesprochenen Ansage zum Thema Blues ist schnell klar, welche Richtung die Musik auf diesem Album einschlagen wird: Einfachheit im formalen Aufbau, die ausgiebig Raum lässt für Energie, Spontanität und Kreativität. Alle Songs wurden mündlich erarbeitet, ganz im Sinne der Tradition. Gleichzeitig ist es eine Kontemplation auf die afroamerikanische Geschichte und eine Momentaufnahme, die die Verarbeitung des Vermächtnisses durch einen hippen jungen Jazzmusiker aus Kansas City im Jahr 2018 aufzeigt.
Und die Mischung macht’s: Logan Richardson’s Klang am Saxofon zeugt von einer erfrischenden Verspieltheit, die zum Teil noch von der cleveren Benutzung von Effekten verstärkt wird. Mal dringt ein relativ scharfer Post-Bop-Sound durch, mal klingt das Alto fast schon wie eine E-Gitarre. Übrigens ein prädominantes Instrument auf der Platte: gleich zwei 6-Saiter holt der Bandleader sich an seine Flanken: Justus West, der ebenfalls singt, sowie Igor Osypov. Bassist DeAndre Manning und Schlagzeuger Ryan Lee sorgen dann für die treibende Kraft hinter der Musik. Diese junge Rhythm Section kümmert sich um einen durchweg modernen Sound und produziert mit ihren Hip-Hop- und Neo-Soul-getränkten Grooves ein weiteres Element in der Kaleidoskop-artigen Komposition dieser Band.
Sowohl die Themen als auch die harmonischen Gerüste sind eher simpel und bieten viel Freiheit für Improvisation. Dann gibt es Anleihen an Jazz-Rock oder Fusion, melodischen Metal, 80er-Jahre-Action-Film-Themen und mitunter scheint das ein oder andere Math-Rock-artige Riff durch. Und mag die Produktion teilweise etwas überspitzt sein, und die verschiedenen Stücke sehr ähnlich in puncto Konzeption und musikalisches Material, so kommen doch hier sowohl Fans vom epischen Aufbau sowie von langen Impros in der Musik voll auf ihre Kosten.
Anspieltipps: Black, Brown & Yellow, The Settlement, Pure Change
De Maart
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