Kinowoche„All of us Strangers“ von Andrew Haigh: The Power of Love

Kinowoche / „All of us Strangers“ von Andrew Haigh: The Power of Love
Paul Mescal als Harry in einer Szene des Films „All of us Strangers“ Foto: Chris Harris/Disney/dpa

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Den britischen Drehbuchautor und Regisseur Andrew Haigh kennt man für seine eindringlichen Filmdramen wie „45 Years“ (2015) oder „Lean on Pete“ (2018) – immer wieder verhandelt er Fragen menschlichen Zusammenlebens und Generationskonflikte. So auch in seinem neuen Film „All of us Strangers“, einer Liebesgeschichte mit Andrew Scott („Sherlock“, 2010; „Spectre“, 2015) und Paul Mescal („Gladiator“, 2000; „Aftersun“, 2022) in den Hauptrollen.

„45 Years“, über die langjährige Ehe eines älteren britischen Paares mit Charlotte Rampling in der Hauptrolle, ist Haighs wohl bekanntester Film. Darin wird mit dem Fund der ersten Freundin des Mannes nach vielen Jahrzehnten dieses Eheverhältnis auf die Probe gestellt. Während sich der Mann in seine Erinnerungen zurückzieht, ist die Frau um die Standhaftigkeit der Ehe besorgt. „Lean on Pete“, eine Adaptation von Willy Vlautlins gleichnamigem Roman, siedelte sich an der Schnittstelle zwischen Roadmovie und Coming-of-Age-Drama an. Nach dem Tod seines allein erziehenden Vaters bricht ein Junge von Portland zu einer Reise nach Laramie, Wyoming, auf – die Vergangenheit und die Leitfigur des Vaters hinter sich lassend. Vor diesem thematischen Hintergrund beider Filme erscheint das neue Werk von Andrew Haigh nur folgerichtig. Schon die erste Einstellung des Films lässt erahnen, wohin seine Geschichte führen wird: Andrews Gesicht wird über der Silhouette der Großstadt eingeblendet, um es dann ganz im gleißenden Licht des Sonnenaufgangs auflösen zu lassen.

„All of us Strangers“ ist die Geschichte eines jungen Mannes, die um Isolation, Leben und Tod, Furcht und Verdrängung kreist, um einen Mann, der den Weg aus der Depression zu finden versucht, hin zu neuem Lebenslicht. Einmal mehr stützt sich Haigh auf eine literarische Vorlage. Der Roman „Sommer mit Fremden“ des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada diente ihm als Basis, und nur als Basis: Haigh übernimmt lediglich die Grundmuster der Erzählung und verdichtet sie zu einem viel facettenreicheren Film. So etwa wird aus der heterosexuellen Romanze bei Taichi eine homosexuelle bei Haigh, um so dem Stoff neue Spannungs- und Konfliktmomente abzugewinnen. Der angehende Drehbuchautor Adam (Andrew Scott) lebt allein in seinem Londoner Neubau-Appartement. Das Erscheinungsbild dieses Hochhaus-Komplexes hält Haigh bewusst düster, in tristen grau-blauen Farben. Die Isoliertheit dieses durch Furcht und Verdrängung gezeichneten Lebens wird auch in der Bildgestaltung immer wieder anschaulich. Nur selten öffnet sich der Blick der Kamera zu einem etwas weiteren Bildausschnitt oder in ein Montagegefüge.

Halbnahe und nahe Einstellungen geben dieser trostlosen Existenz ihren formalsprachlichen Ausdruck, dazu kommt eine sorgsame Kameraführung, überwiegend unbewegt, immer wieder auf engen und begrenzenden Bildausschnitten verweilend. Als Adam auf Harry (Paul Mescal) trifft, der auch in dem Wohnhaus lebt, öffnet er sich für eine neue Beziehung – das Interieur scheint nach und nach mit der Kraft gleißender Sonnenstrahlen in neuem Glanz aufzuleben. Harry hilft Adam seinen inneren Ängste, die ihn fest im Griff haben, zu begegnen. Er lässt sich auf ihn ein, bald ist es Liebe. Nach und nach schlüsselt Haigh uns dieses komplexe Trauma auf.

Zeitreisen und Generationenkonflikte

Adam begegnet so auch seinen Eltern, die er regelmäßig aufsucht, sie leben etwas außerhalb der Stadt, eine Metro bringt ihn immer wieder zu dem Elternhaus, das für ihn ein Refugium ist. Doch, so erfahren wir, sind Adams Eltern tot. Adam war noch ein Kind, als Mutter und Vater bei einem Unfall ums Leben kamen. Die Begegnungen mit seinen Eltern finden lediglich in seinem Kopf statt, die Reisen in der Metro sind Teleportationen in ein anderes Raum-Zeit-Gefüge, in dem Adam seine Eltern so wiederfindet, wie er sie noch vor ihrem Unfall kannte: ebenso jung, wie er es jetzt ist. Imaginationsraum und Wirklichkeit durchdringen sich immer mehr:

Da wo der Roman von Taichi Yamada viele Ausführungen bemüht, wie es denn um solche Treffen wirklich beschaffen ist, wie real das alles überhaupt sein kann, da geht Haigh mit „All of us Strangers“ viel ungezwungener auf diese übernatürliche Konstellation ein. Über die Zwiesprache mit den Eltern verhandelt Haigh die generationsbedingten Konfliktfelder: die Ressentiments gegenüber der Homosexualität oder noch die Furcht vor Aids. Mit der homosexuellen Romanze und den freudvollen Wiedersehen mit Mutter (Claire Foy) und Vater (Jaime Bell) sind die beiden hauptsächlichen Handlungsachsen ausreichend skizziert, über die Haigh seinen Film auslegt: ein altes Leben hinter sich zu lassen, um ein neues beginnen zu können. Das spürbar Repetitive der Erzählung, die Kulmination an den immergleichen Orten strukturieren diesen Film auf besondere Weise. Es sind Verabredungsorte der leisen Konfrontation, der allmählichen Bewältigung, sowie der Neu- und Selbstfindung.

Die traumatischen Schmerzen gilt es stückweise zu überwinden, dafür findet Haigh entsprechende Großaufnahmen einer sich neu anbahnenden Liebe in den kleinen Handgesten – mit solch visuellen Details weist Haigh nachdrücklich auf die gesellschaftlichen Veränderungen in der Akzeptanz von Homosexualität hin. Die Momente der vertrauten Zweisamkeit der beiden Männer wird vorerst durch Adams Erinnerungen gestört. Das Schauspielensemble aus Andrew Scott und Paul Mescal sowie Jaime Bell und Claire Foy achtet darauf, in der feinen Mimik diese Unterschiede und die Klüfte anschaulich zu machen. Für diese Liebesgeschichte braucht es keine heftigen Gefühlsausbrüche. Dass die Fortschritte sich in erster Linie in Gesichts- und Körpersprache der Hauptdarsteller abzeichnen, lässt an Vorbilder wie Harry Macqueens „Supernova“ (2020) und Todd Haynes’ „Carol“ (2015) denken, auch wenn Haigh deren melancholischen Tonfall nicht teilt.

Von seiner ersten Einstellung bis zu seiner letzten, vom trübseligen Blick seines Protagonisten über die Londoner Morgendämmerung bis zu seiner in Embryonalstellung liegenden Gestalt auf dem Bett – man kann diese Bildformeln als durchaus abgegriffen empfinden; dem Wesen eines „männlichen Melodramas“ gehorchen sie gleichwohl, in ihnen manifestiert sich eine visuelle Prägnanz, die unmittelbar auf den Kern der Erzählung trifft. Wenn „All of us Strangers“ zu dem Song „The Power of Love“ von Frankie Goes To Hollywood schließt, und dabei ein mit ähnlichen kosmischen Bildern entsprechendes Musikvideo zitiert, ist die Katharsis von Adam angedeutet.

Andrew Scott als Adam
Andrew Scott als Adam Foto: Chris Harris/Disney/dpa