Das Wasser des Sev-Sees glänzt in tiefem Blau. Auf mehr als 2.500 Höhenmetern liegt der majestätische See zwischen kahlen Berghängen. Die Umgebung ist weitgehend menschenleer, denn das Naturjuwel befindet sich im armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet. Nun droht ausgerechnet in diesem Naturidyll die Gefahr einer neuen Eskalation zwischen den verfeindeten Nachbarn.
Zwar wurde der Berg-Karabach-Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im November des Vorjahres durch einen von Russland vermittelten Waffenstillstand formal beendet. Seither sind in dem mehrheitlich von Armeniern besiedelten Gebiet, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, rund 2.000 russische Friedenssoldaten stationiert.
Von einem nachhaltigen Frieden zwischen den beiden Südkaukasus-Republiken kann aber keine Rede sein. Die politischen Spannungen zwischen Jerewan und Baku sind weiter beträchtlich; in Berg-Karabach und angrenzenden Gebieten kommt es regelmäßig zu Zwischenfällen.
Streit um See
Nun beschuldigt Jerewan Baku, einen neuen militärischen Konflikt, dieses Mal auf seinem eigenen Staatsgebiet, provozieren zu wollen. Nach armenischen Angaben sind seit 12. Mai mehrere hundert aserbaidschanische Soldaten auf armenisches Territorium vorgedrungen. Ort des Geschehens ist die südliche Provinz Sjunik, ein schmaler Streifen Land, der sich bis zur iranischen Grenze zieht. In der Gegend um den mehrheitlich in Armenien liegenden Sev-See sollen die Aserbaidschaner dreieinhalb Kilometer vorgerückt sein sowie eine Anhöhe besetzt haben, die ihnen nun strategische Vorteile biete. Baku bestreitet hingegen, armenisches Territorium betreten zu haben.
500 bis 600 aserbaidschanische Soldaten sollen sich laut Premier Nikol Paschinjan auf armenischem Staatsgebiet aufhalten, wie er in der Vorwoche erklärte. Die Lage sei „angespannt“. Paschinjan warf den Truppen vor, den See umrunden zu wollen. Armenisches Militär habe seine Präsenz in den betreffenden Regionen verstärkt, um die Aktivitäten der gegnerischen Truppen einzudämmen. Am vergangenen Donnerstag erklangen erstmals Warnschüsse von armenischer Seite. Seither ist die Lage ruhig geblieben.
Hintergrund des Konflikts ist, dass die rund 1.000 Kilometer lange Staatsgrenze zwischen Armenien und Aserbaidschan bis heute nicht offiziell gezogen ist. Im Fall des Sev-Sees war das bis zum jüngsten Krieg für die armenische Seite kein großes Problem: Sie hielt die daran angrenzende aserbaidschanische Provinz Latschin besetzt, die eine Art Puffer rund um das in einem früheren Krieg eroberte Berg-Karabach bildete. Doch seit dem Verlust des Puffers im November 2020, sind aserbaidschanische Verbände bis an die Staatsgrenze herangerückt. Gegnerische Soldaten stehen sich nun an vielen Orten direkt gegenüber. Das erhöht die Gefahr lokaler Scharmützel.
Wie real diese Gefahr ist, zeigen Meldungen der vergangenen Tage. Dem armenischen Ombudsmann zufolge wurde am Dienstag ein armenischer Soldat bei einer solchen Schießerei tödlich getroffen. Am Mittwoch dann beschuldigte Aserbaidschan armenische Streitkräfte, am 24. und 26. Mai über die internationale Grenze der beiden Länder hinweg auf seine Truppen geschossen zu haben. Demnach hätten die aserbaidschanischen Truppen das Feuer nicht erwidert. Verletzte habe es keine gegeben.
Welche Karten zählen?
Beide Seiten berufen sich auf unterschiedliches Material aus der Sowjetzeit – wobei Jerewan sprichwörtlich die besseren Karten hat. In Armenien mutmaßt man, dass der autoritäre Präsident Ilham Alijew nach den Gebietseroberungen im Berg-Karabach-Krieg zu weiteren militärischen Abenteuern bereit sein könnte. Möglich scheint außerdem, dass Baku mit seinem Vorstoß die Geduld der armenischen und russischen Seite testen bzw. seine Position bei künftigen Verhandlungen um seine Exklave stärken möchte.
Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, ein Militärbündnis, bei dem Armenien Mitglied ist, soll nun den Konflikt lösen. Russland schlug die Gründung einer Kommission zur Grenz-Demarkation vor. Mehr Rückendeckung signalisierte Moskau seinem Verbündeten Armenien vorerst nicht. Russland nimmt demonstrativ die Rolle des Vermittlers in dem Konflikt ein. Moskau scheint seinen guten Draht zu Baku und dessen Unterstützers Türkei nicht riskieren zu wollen. Gleichzeitig könnte es die neuerliche Krise dazu nutzen, seinen eigenen militärischen Einfluss in Armenien weiter zu vergrößern. Das Verhältnis des Kremls zu Paschinjan wurde während dessen dreijähriger Regierungszeit nie innig.
Auch innenpolitisch befindet sich Armenien weiterhin in einer unruhigen Lage. Der angeschlagene Premier schaffte gestern mit einer weiteren Aussage Verwirrung. Er wolle ein Abkommen unterschreiben, mit dem unter russischer Vermittlung Baku und Jerewan endlich ihre Streitigkeiten regeln könnten. Details verriet er nicht – was ihm sofort heftige Kritik von Oppositionsparteien einbrachte. Seit dem verlorenen Krieg im Vorjahr steht Paschinjan, der in einem friedlichen Machtwechsel im Frühling 2018 an die Macht kam, unter großem Druck. Für 20. Juni sind vorgezogene Parlamentswahlen angesetzt.
De Maart
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