Donnerstag13. November 2025

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GroßbritannienZwanzig Jahre nach dem Londoner U-Bahn-Terror erinnern sich die Überlebenden an das Attentat

Großbritannien / Zwanzig Jahre nach dem Londoner U-Bahn-Terror erinnern sich die Überlebenden an das Attentat
Bei dem Anschlag von Al-Kaida kamen über 50 Personen ums Leben und über 700 wurden verletzt  Foto: Kerim Okten/dpa

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Einen Weckruf verschlafen. Einen Bus vertrödelt. Eine Verabredung abgesagt. Tausende von Londoner erinnern sich an diesem Montag wieder daran, warum sie damals, vor zwanzig Jahren, nicht auf dem Weg waren zur Arbeit oder Vorlesung, zu scheinbar dringenden Terminen. Warum ihnen das Schicksal erspart blieb, das an jenem heißen Juli-Donnerstag ihre Mitbürger ereilte.

Vier junge Selbstmord-Attentäter zündeten vor 20 Jahren in London in drei U-Bahnzügen und einem Doppeldecker-Bus der Linie 30 ihre selbstgebastelten Bomben. Die Bilanz: 52 Tote, 770 Verletzte, Verstümmelte, tief Traumatisierte. Und eine Stadt, die entschlossen war, sich vom Terror islamistischer Spielart ebenso wenig einschüchtern zu lassen wie von den Bomben der deutschen Luftwaffe oder der irisch-republikanischen Armee.

Im Vorfeld des 20. Jahrestages haben sich eine Reihe von Opfern zu Wort gemeldet. Mit keinem Wort erwähnten sie die Täter, von Hass war keine Rede. Viele erinnerten sich an ein grelles Licht, an die gespenstische Stille in der Dunkelheit, an den beißenden Rauch. Sie habe das Gefühl gehabt, schreibt Rivka Isaacson in der Financial Times, „wie schäbig es ist, in einem U-Bahnunfall zu sterben.“ Von Terror hörte sie viel später.

Eine andere junge Frau im selben Zug der Piccadilly-Line zwischen King’s Cross und Russell Square erinnert sich an die Diskrepanz zwischen dem Geruch von verbranntem Gummi und dem Gefühl von Todesnähe einerseits sowie der fröhlichen kubanischen Musik in ihrem iPod andererseits. Sie habe in dem vollen Zug nichts tun können, außer nicht in Panik zu geraten, schreibt Alice O’Keefe, die bei der Times arbeitet. „Ich dachte an das Buch, das ich immer hatte schreiben wollen. Vor allem dachte ich ans Atmen. Ein, Aus, Pause. Ein, Aus, Pause.“

Beide Frauen berichten, sie hätten keine spürbaren Trauma-Folgen erlebt. Den erfahrenen U-Bahnführer Jeff Porter holten die Szenen jenes Tages mit Verspätung ein. Am 7. Juli war der U-Bahnzug des damals 46-Jährigen kurz vor dem Bahnhof Edgware Road zum Stehen gekommen, als im entgegenkommenden Zug einer der Islamisten seine Bombe zündete. Porter benachrichtigte die Leitstelle, brachte seine knapp 1.000 Passagiere in Sicherheit und ging erst einmal eine Tasse Tee trinken. Erst gut ein Jahr später begannen die Symptome: Plötzliche laute Geräusche jagten ihm einen Schreck ein, ungewisse Situationen machten ihn nervös, um laute Diskussionen machte er einen großen Bogen.

Sich nicht unterkriegen lassen

Vielen der fürs Leben Verletzten bereitete die Bürokratie ein Trauma, das den Ereignissen unter Tage oder im 30er-Bus um nichts nachstand. Entschädigungszahlungen kamen spät, die Summen waren arg kleinlich. Nur für die schwersten Verletzungen erhielten die Opfer die größtmögliche Zahlung, für nachfolgende Schädigungen wurden jeweils 30 oder 15 Prozent der Höchstsumme fällig. Der am schwersten verletzte Überlebende bekam umgerechnet rund 150.000 Euro für den Verlust beider Beine, dafür aber nur 11.010 Euro für Blindheit auf einem Auge; seine Milz war gerade noch 904 Euro wert. Heute hält Daniel Biddle gut bezahlte Reden, in denen es um die Rechte von Behinderten geht.

Weitermachen, sich nicht unterkriegen lassen, dem Terror trotzen – dafür bieten viele Überlebende und Angehörige ein gutes Beispiel. Die Politik freilich konnte nicht weitermachen. „Wir mussten feststellen, dass das Instrumentarium nicht ausreichte“, erinnert sich der damalige Premierminister Tony Blair. Das Unterhaus beschloss eine Reihe neuer Gesetze: Terror-Verdächtige dürfen bis zu vier Wochen ohne Anklage in Haft gehalten werden, die Geheimdienste erhielten weitgehende Befugnisse zur Ausspähung von Extremisten, das Abzapfen von Internet-Kommunikation wurde rechtlich möglich. Viele Attentate konnten so verhindert werden, beteuern die Verantwortlichen.

Ghetto-Bildung in Großbritannien

Dennoch hat die Insel immer wieder islamistischen Terror verkraften müssen. Unter den mehr als drei Millionen Muslimen lebt eine winzige gewaltbereite Minderheit. Auf sie trifft noch immer zu, was die 7/7-Fahnder als Fazit ihrer Ermittlungen über die Bluttaten des Quartetts zwischen 18 und 30 Jahren aufschrieben: „Wenig unterscheidet die vier Männer von vielen anderen ihres Alters, ihrer ethnischen und sozialen Herkunft.“

Damals wurde das Land aus der Illusion gerissen, die Minderheiten aus den Ex-Kolonien seien vollständig integriert. Der Ghetto-Bildung, zumal in vielen armen Städten Nordenglands, ist kaum beizukommen. Unter dem Eindruck des Massensterbens im Gaza-Streifen wandten sich bei der jüngsten Wahl viele Muslime von den etablierten Parteien ab und schwemmten eine Hand voll Protestabgeordnete ins Unterhaus.

An diesem Montag ist davon nicht die Rede. Viele der Opfer und Angehörigen, die zu guten Bekannten, sogar Freunden geworden sind, werden sich beim offiziellen Gedenkgottesdienst in der Paulskathedrale treffen. Und vielleicht nimmt Alice O’Keefe die Gelegenheit wahr, im Bahnhof King’s Cross bei der Gedenktafel für die Opfer vorbeizuschauen. „Dann macht mein Herz so komische Sachen. Ich kann nie lang hinschauen. Ich sollte länger hinschauen.“