Samstag18. Oktober 2025

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NordirlandZum ersten Mal führt eine irische Nationalistin die Allparteienregierung

Nordirland / Zum ersten Mal führt eine irische Nationalistin die Allparteienregierung
Michelle O’Neill, die neue „erste Ministerin“ in Nordirland, geht an einem Porträt von Martin McGuinness vorbei, einem ehemaligen „Sinn Féin“-Politiker Foto: AFP/Paul Faith

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Es gibt vielerlei Gründe, historisch zu nennen, was am Samstag in Belfast geschah. Ganz klar offenbart sich dies in der Person der neuen „Ersten Ministerin“, wie die politische Chefin der britischen Provinz Nordirland offiziell heißt: Zum ersten Mal in der Geschichte des Nordostens der grünen Insel führt eine irische Nationalistin, Michelle O’Neill, die Geschicke der rund 1,8 Millionen dort lebenden Menschen.

Dabei existiert Nordirland natürlich nur, weil vor gut hundert Jahren die dort lebenden Protestanten der Regierung in London mit offener Rebellion drohten, als sich die Mehrheit Irlands auf den Weg in die Unabhängigkeit vom Königreich machte. Die Abtrennung der sechs Grafschaften rund um Belfast und Derry sollte dort die hergebrachte, protestantisch-unionistisch geprägte Herrschaft auf Dauer zementieren. Unterminiert wurde dieser Machtanspruch von der moralisch unhaltbaren Diskriminierung gegenüber der katholischen Minderheit – und vom blutigen Bürgerkrieg, den die irisch-nationalistische Terrortruppe IRA entfachte.

Michelle O’Neills Vater war IRA-Mitglied, die 47-Jährige erinnert sich an Durchsuchungen des Elternhauses, die „Raison d’être“ ihrer Partei Sinn Féin (SF) ist die politische Vereinigung Irlands. Eine entsprechende Volksabstimmung sieht das Karfreitagsabkommen von 1998 vor, sobald sich der Wunsch einer Mehrheit der Nordiren abzeichnet. O’Neill lässt keinen Zweifel daran, dass sie diesen Weg anstrebt, „in diesem Jahrzehnt“. Freilich deuten Umfragen und Wahlergebnisse beiderseits der Grenze weder darauf hin, dass die Nordiren mehrheitlich so weit sind, noch dass genug Bürger der Republik ihre streitsüchtige Verwandtschaft mit offenen Armen empfangen würden.

Zunächst einmal hat O’Neill alle Hände voll zu tun. Die Lähmung der Allparteienregierung während der vergangenen zwei Jahre hat die Probleme der wirtschaftsschwachen Region massiv vergrößert. London stellt ein Hilfspaket von 3,3 Milliarden Pfund (3,9 Mrd. Euro) zur Verfügung, aber die Verteilung des Geldes bleibt umstritten. Dass die führende politische Kraft der protestantischen Bevölkerung DUP zur Kooperation mit den Nationalisten zurückgefunden hat, lag nicht zuletzt an einem massiven Warnstreik von 170.000 Beschäftigten im öffentlichen Dienst.

Im Gesundheitswesen NHS bekommen die Patienten viel seltener Termine mit Spezialisten als in England, verschiebbare Eingriffe wie eine Operation am grauen Star oder das Einsetzen einer künstlichen Hüfte erhält man erst nach Wartezeiten von bis zu zwei Jahren. Die Gehälter von Ärztinnen und Krankenpflegern ebenso wie von Lehrerinnen und Beamten liegen deutlich niedriger als in vergleichbar ländlich geprägten Regionen Englands.

Ein Kreationist als Streitschlichter

Historisch ist, zweitens, die Frauenpower in Belfast: Noch nie waren beide Anführer der Allparteienregierung Frauen. Wie O’Neill verfügt auch ihre – juristisch gleichgestellte – Vize Emma Little-Pengelly (DUP) über langjährige politische Erfahrung, hat das gemeinsame Regieren aus der zweiten Reihe mitgestaltet. Auch die 46-Jährige ist tief verwurzelt im sektiererisch-militanten Milieu: Ihr Vater saß wegen Terrordelikten für die loyalistischen Paramilitärs im Gefängnis.

Wer im Namen der DUP Politik macht, verdeutlicht auch die Person des neuen Parlamentspräsidenten: Speaker Edwin Poots gehört der radikalen Protestantensekte des Predigers Ian Paisley an, aus der die DUP einst hervorging. Zu seinen Überzeugungen gehört, die Erde sei von Gott vor rund 6.000 Jahren geschaffen worden. Ein Kreationist als überparteilicher Streitschlichter: noch so ein Event, das die Bezeichnung „historisch“ verdient.

Ganz gewiss trifft dies, viertens, auch auf die folgende Entwicklung zu: Erstmals gibt es zur Allparteienregierung auch eine offizielle Opposition, bestehend aus der SDLP-Fraktion. Ironie der Geschichte: Niemand hat mehr zur gemeinsamen Politik zum Wohle Nordirlands beigetragen als der verstorbene Friedensnobelpreisträger John Hume, einer der SDLP-Gründerväter. Humes Stellvertreter Seamus Mallon diente 1998 als erster Regierungsvize in Belfast. Längst sind die friedfertigen Nationalisten von Sinn Féin, dem politischen Arm der IRA, zur Seite geboxt worden. SDLP-Fraktionschef Matthew O’Toole, einst Spitzenbeamter in London, wird O’Neill und Little-Pengelly harte, aber konstruktive Fragen stellen. Das kann zum Gelingen der Selbstverwaltung nur beitragen.