Mittwoch29. Oktober 2025

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SchwedenZu viele Tote, aber wenig Erkenntnisse: Leise Selbstkritik auf dem Sonderweg

Schweden / Zu viele Tote, aber wenig Erkenntnisse: Leise Selbstkritik auf dem Sonderweg
Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell sieht „Verbesserungspotenzial für das, was wir in Schweden gemacht haben – ganz klar“  Foto: AFP/Anders Wiklund

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Schweden ist in der Corona-Krise einen weltweit beachteten und im Ausland scharf kritisierten Sonderweg gegangen. Fast alles blieb erlaubt und geöffnet. Doch die Anzahl an Toten ist erschreckend hoch. Das hat jetzt auch Staatsepidemiologe Tegnell erstmals eingeräumt – blieb aber vage. Und ruderte später zurück.

Erstmals hat sich am Mittwoch Schwedens für den lockeren Kurs hauptverantwortlicher Staatsepidemiologe Anders Tegnell selbstkritisch, wenn auch sehr vage geäußert. Dem Radio Schweden (SR) sagte Tegnell, man hätte doch mehr Maßnahmen ergreifen sollen – und dies von Anfang an. Tegnell spricht von einer Mischform aus dem derzeitigen lockeren Weg Schwedens und der strikten Lockdown-Strategie der meisten anderen Länder. „Wenn wir nochmals auf genau die gleiche Krankheit gestoßen wären, mit dem Wissen, das wir jetzt darüber haben, wären wir, glaube ich, auf einem Mittelweg gelandet zwischen dem, was Schweden jetzt gemacht hat, und dem, was der Rest der Welt gemacht hat“, sagte Tegnell dem Sender.

Tegnell, der bekannt ist für seine unklaren, teils recht unbedachten Äußerungen, konkretisierte nicht wirklich, was dies bedeutet. Er sagte aber, es gebe „Verbesserungspotenzial für das, was wir in Schweden gemacht haben – ganz klar“. Um anzuhängen, dass es gut wäre, „wenn man etwas exakter wüsste, was man schließen sollte, um die Infektionsausbreitung besser zu verhindern“.

Ob zu viele in Schweden zu früh gestorben sind bislang? „Ja, absolut“, antwortete Tegnell, blieb aber vage dazu, woran das genau liegt. Man müsse das untersuchen für die Zukunft. Es sei nicht ganz klar, was richtig gewesen wäre, so Tegnell. „Im Grunde haben alle anderen Länder alles verboten, was nur geht, mit einem Mal. Das Problem damit ist, dass man eigentlich nicht weiß, welche von all diesen Maßnahmen, die die anderen Länder erlassen haben, den besten Effekt hat.“ Möglicherweise bekämen wir darauf eine Antwort, wenn diese Länder nun nach und nach Maßnahmen lockern, so Tegnell. Davon könnte Schweden vielleicht lernen, allerdings wolle man den Weg des totalen Lockdowns nicht gehen, betonte Tegnell, was seine Selbstkritik auch schon wieder abschwächte.

Eine Umkehr ist nicht in Sicht

Eine Abkehr vom freiwilligen Weg, hinter dem in Schweden sowohl Regierung wie Opposition stehen, ist nicht in Sicht. Kritiker meinen, dafür sei es jetzt ohnehin zu spät. Auch Ex-Staatsepidemiologin Annika Linde, die Tegnells Kurs zunächst stützte, kritisierte wegen der höheren Todeszahl, man hätte zumindest anfänglich einen Lockdown machen müssen, um Zeit zu haben, notwendige Vorkehrungen für die besonders gefährdeten Risikogruppen zu treffen.

Ihr Nachfolger, Tegnell, entgegnete in den vergangenen Wochen wiederholt, ein genereller Lockdown hätte die Sterbezahlen nicht vermindert. So seien die Todeszahlen in Lockdownländern wie Spanien mit 57,43 Toten auf 100.000 Einwohner oder Frankreich mit 42,49 oder Großbritannien mit 55,64 Toten höher als in Schweden. Todeszahlen zwischen Ländern zu vergleichen und sie mit der Strategie zu koppeln, sei statistisch problematisch, sagte er auch immer wieder. So würden auch in einigen Ländern nur Coronatote in Krankenhäusern, nicht aber in Altenheimen so wie in Schweden gerechnet, sagte er.

Wir meinen weiterhin, dass unsere Strategie gut ist

Anders Tegnell, Schwedens Staatsepidemiologe

Es gebe zudem zu viele Zufallsfaktoren wie bestimmte Hotspots und Superspreader-Ereignisse, bei denen sich vereinzelt besonders viele Menschen schnell ansteckten, unabhängig von der Landesstrategie. Eine bessere Kennziffer für die Pandemie sei die Anzahl der Intensivstationspatienten, so Tegnell. Die ist in Schweden seit Wochen rückläufig.

Es gehe vor allem um punktuelle Schwachstellen, so Tegnell. So liegt die schwedische Achillesferse in den Altenheimen. Rund die Hälfte der Toten wurden aus ihnen gemeldet. Man sei daran gescheitert, diese Einrichtungen ausreichend zu schützen, räumte Tegnell bereits vor Wochen ein. Schwedens Altenpflege-Politik steht nach Kürzungen und Privatisierungen schon seit Jahren in der Kritik. Vor allem sozial schwache Zeitarbeiter ohne feste Anstellungen hätten das Virus in die Heime eingeschleust, weil sie nicht auf ihren Stundenlohn verzichten wollten und weil es in den Heimen an Schutzausrüstung wie Mundschutz fehlt, vermutet das Sozialministerium. Eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt.

Nach Tegnells Interview mit Radio Schweden ruderte er ein Stück zurück auf der täglichen Pressekonferenz. „Wir meinen weiterhin, dass unsere Strategie gut ist“, sagt er da. Er habe im Interview mit Radio Schweden nicht Abstand von der gegenwärtigen schwedischen Strategie genommen. „Überhaupt nicht! Wir meinen, die Strategie ist gut. Dann gibt es immer Verbesserungsmöglichkeiten, vor allem wenn man zurückblickt. Man kann sich immer verbessern“, sagt Tegnell.