Zeitgeschichte: Wie in Differdingen wegen des Ersten Weltkriegs die erste Schulkantine entstand

Zeitgeschichte: Wie in Differdingen wegen des Ersten Weltkriegs die erste Schulkantine entstand

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Fast jede Gemeinde des Landes verfügt heute über „Maisons relais“, in denen Kindern Ganztagsbetreuung angeboten wird. Man kann über Nutzen und Nachteil dieser Einrichtungen diskutieren, doch fest steht: Sie sind heute unabdingbar. 1988, als in Differdingen Schulkindern zum ersten Mal ein Mittagessen angeboten wurde, nannte man das noch „Schulkantine“. Es ging darum, Kindern von berufstätigen Eltern ein Mittagsmahl anzubieten. Ähnliche Einrichtungen gab es bereits im Ersten Weltkrieg. Damals aber aus anderen Gründen.

Von unserem Korrespondenten Roby Fleischhauer

1916, mitten im Ersten Weltkrieg, schickten die Eltern ihre Kinder in die Schulkantine, weil es zu Hause nichts zu essen gab und die Gemeindeverwaltung unter Bürgermeister Emile Mark die Aufgabe übernahm, die hungernden Kinder wenigstens notdürftig zu beköstigen. Heute muss die Zubereitung der Mahlzeiten und die Essensausgabe strengsten hygienischen Vorschriften entsprechen und die Kinder dürfen sogar ihre Essenswünsche äußern. Damals im Keller und im Turnsaal der Schule im Zentrum von Differdingen sah das aus.

Wegen der Lebensmittelknappheit während des Krieges ging es den Städtern und der Arbeiterbevölkerung miserabel. Die ständige Teuerung überstieg die Löhne der Schmelzarbeiter und Bergleute. Die panikartigen Lebensmitteleinkäufe zu Beginn des Krieges taten ein Übriges. Die Briten verhinderten Weizeneinkäufe der luxemburgischen Regierung in den Vereinigten Staaten mit der Begründung, Luxemburg sei ein Teil des Deutschen Reiches. Daran schuld war vor allem die angeblich deutschfreundliche Haltung von Großherzogin Marie-Adelheid. Proviantminister Dr. Michel Welter musste sich, was die Lebensmittelversorgung betrifft, mit den Deutschen arrangieren.

Lange Reihen blasser Frauen und unterernährter Kinder

Die Folge war eine große Hungernot, unter der besonders die Kinder litten. Die ersten Fälle von Hungerödemen bei Minderjährigen wurden festgestellt. Der Streik vom 31. Mai 1917, organisiert von der noch sehr jungen Gewerkschaft, war eine Folge dieser Situation. Hunger und Teuerung trieben die Lohnabhängigen auf die Straße.

Die Zeitung Der arme Teufel schrieb damals: „Von Eiern weiß der Arbeiter und der kleine Beamte nicht mehr, ob sie rund oder viereckig sind.“ Und weiter: „Die langen Reihen blasser Frauen und unterernährter Kinder vor den Verkaufsläden, wo sie stundenlang warten müssen, bis sie gegen teures Geld einen notdürftigen Bissen erhaschen.“ Die Bauern, die ihre Produkte hätten abliefern sollen, zogen es vor, sich diese von den Hamsterern in Gold aufwiegen zu lassen. Im Jahre 1918 wurde die Not besonders groß: Mit Nahrungskarten erhielten die Menschen noch 125 Gramm Fleisch pro Woche, ein Viertelpfund Butter und täglich ein halbes Pfund Brot. Das einstige Tierfutter Kohlrabi gehörte jetzt zur täglichen Nahrung der armen Leute.

Hier ein Entschuldigungszettel, den der Lehrer Nic Kodisch aufbewahrt hatte: „Herr Lehrer Faber, mein Sohn Willy konnte gestern die Schule nicht besuchen, der war mit nach Ösling Kartoffeln holen und dann hätte ich noch eine Bitte. Könnte ich den Willy nicht aus der Schule bekommen, er könnte bei einen Bauern kommen und ich hätte ihn aus der Kost, denn die Zeiten sind jetzt zu schlecht, wollen Sie bitte Willy näheren Bescheid geben und an wen ich mich wenden muss.“

Gemeinde greift ein

Die Differdinger Schulkommission stellte fest: „Attendu que le fait est certain qu’un grand nombre d’élèves souffrent de la dénutrition, ce que la Commission scolaire a constaté à l’occasion de ses tournées habituelles dans les écoles, et que le produit sur leur état physique et moral a été trouvé désolant; attendu que pour rémédier à cet état lamentable il aurait lieu de faire servir aux élèves indigents une nourriture réconfortante ce qui serait très difficile par les moments qui courent à moins que l’Etat ne prenne des dispositions en vue de l’approvisionnement plus abondant de ses cantines …“

Im Januar 1916 führte die Gemeindeverwaltung unter Bürgermeister Emile Mark einen „Morgenkaffee“ in den drei Schulsektionen ein. Es gab gratis Kaffee und Weißbrot. In der Gemeinderatssitzung vom 7. Dezember 1916 wurde über den entsprechenden Kredit für eine Schulkantine debattiert. Wir erfahren, dass die Kantinen im Oktober 1916 eingerichtet wurden und 1.700 Schüler eingeschrieben waren. Die Ausgabe pro Kopf und Tag betrug

4 Sous. Die Aufnahme der Kinder aus Oberkorn und Niederkorn verzögerte sich, weil man vorerst nicht genug große Kessel hatte. Jetzt, nachdem die Ober- und Niederkorner Schüler ebenfalls aufgenommen wurden, stieg die Gesamtausgabe auf 60.000 Franken für sechs Monate. Es gab ein abwechselndes Menü mit Bohnen und Erbsen (von Fleisch geht keine Rede). Der Staat trug die Hälfte zu den Ausgaben bei, während die „Industriegesellschaften“ insgesamt 25 Prozent finanzierten.

Reisbrei und Grütze

Der „Morgenkaffee“ wurde wieder abgeschafft, weil er das Ganze verteuerte. Es folgte eine Diskussion der Ratsmitglieder, die sich damals, wie auch 1988 bei der Einführung der neuen Schulkantinen, um die Kinder drehte, deren Eltern ein gutes Einkommen hatten. Damals wie auch 1988 wurde jedoch beschlossen, alle Kinder aufzunehmen. Den Eltern verlangte man 35 Centimes als Beitrag ab.

Lucien Marc, ehemaliger Lehrer in Differdingen, der den Ersten Weltkrieg als Kind miterlebt hatte, war nicht so begeistert vom Menü. Er schreibt in seinem Büchlein „Kind im Krieg“: „In den Hungerjahren 1917 wurde die Schulkantine eingeführt und der Turnsaal in Küche und Speisesaal verwandelt. An langen Tischen saßen nun jeden Mittag Hunderte Jungen und Mädchen und aßen fröhlich um die Wette. In langen Reihen sind sie allemal angetreten, die Buben mit dem Löffel im Knopfloch der Jacke. Die Mädchen hatten ihn fein säuberlich in Papier eingewickelt. Ich selbst bin nie hingegangen. Einmal, weil es allzu oft Reisbrei und Hafergrütze gab, Dinge, die ich nie, auch in den allerschlimmsten Kriegstagen, nicht hinunterzuwürgen vermochte und dann, ich schämte mich. Denn keiner meiner Klassenkameraden ging hin, und ich hätte ihren Spott – das gabs noch in diesen Tagen – nicht ertragen können. Und mitunter roch’s doch so gut aus dem Turnsaal nach Heringen oder Bohnen oder Linsen.“