23. Oktober 2025 - 17.01 Uhr
Akt.: 23. Oktober 2025 - 17.37 Uhr
Yungblud in der RockhalWofür ihn die Fans lieben – und warum das Hoffnung gibt

Schon Stunden vor Einlass zieht sich eine bunte Menschenschlange um die Rockhal in Esch-Belval. Zwischen bunt gefärbten Haaren, Nietenjacken, Plateaustiefeln und zerfransten Netzstrumpfhosen werden Selfies gemacht, Snacks geteilt, Geschichten erzählt. Jugendliche, Kinder, Erwachsene, Senior*innen – alle warten auf denselben Moment: der Auftritt des britischen Rockstars Yungblud. Drinnen, in der ausverkauften Main Hall, wird später kein Platz mehr frei bleiben. Das Publikum: ein Patchwork. Punk, Emo, Hippy, Y2K (moderne Bezeichnung für Mode aus den 2000ern) – alles vermischt sich, niemand scheint sich zu verstellen.
Eine Familie ohne Dresscode

Denn bei einem Yungblud-Konzert geht es um weit mehr als Musik. Es ist ein soziales Experiment, ein vorübergehender Gegenentwurf zur Realität. In der Rockhal entsteht an diesem Abend eine Parallelwelt, in der traditionelle Etiketten bedeutungslos werden. Trans, gay, bi – niemand fragt, niemand urteilt. Tattoos im Gesicht, zerrissene Netzstrümpfe, Männer in Röcken, Frauen als Tomboys – alles selbstverständlich. Wer sich umsieht, trifft auf gelebte Akzeptanz. Diese inklusive Energie ist kein Zufall. Dominic Harrison, 28, alias Yungblud, hat seine Karriere als Gegenentwurf zu Konformität und Schubladendenken aufgebaut. Seine Botschaft: Sei laut. Sei echt. Sei du selbst.
Das Tageblatt hat sich vor Einlass in die erste Reihe der Warteschlange gewagt. Manche Fans stehen hier seit über zwölf Stunden. Decken, Energy-Drinks, Eyeliner – alles ist vorbereitet. Olivia aus Nancy steht seit halb sechs morgens vor der Rockhal. „Seine Musik hat mich gerettet“, sagt sie. „Sie hat mir gezeigt, dass ich nicht allein bin.“ Seit sechs Jahren begleitet sie Yungblud, und jedes Konzert sei für sie, wie sie sagt, „ein Stück Heilung“. „Seine Texte inspirieren mich jeden Tag. Sie haben mir geholfen, mit mir selbst klarzukommen, in Zeiten, in denen ich verloren war.“ Diese Nähe, die seine Fans zu ihm empfinden, beginnt in seinen Lyrics. Yungblud schreibt über Identität, Selbstzweifel, Liebe, Rebellion – ein Rettungsanker für viele.
Mehr als ein Konzert
Sofia ist hingegen extra aus Malmö in Schweden angereist und sitzt seit sieben Uhr in der Früh hier. „Ich wollte ihn eigentlich in Kopenhagen sehen, aber die Tickets waren weg. Mein Freund hat’s verbockt – also hat er mir diese Reise nach Luxemburg geschenkt. Ich wünschte, es hätte jemanden wie Yungblud gegeben, als ich Teenager war“, sagt sie. „Er erinnert mich daran, dass man sich nicht schämen muss, wer man ist.“

Amandine ist mit ihrem Bruder und ihrer Mutter aus Ottignies in der Nähe von Brüssel angereist. Für sie ist es das 13. Yungblud-Konzert seit 2019. „Wenn man bei Yungblud ist, ist man umgeben von Menschen, die genauso fühlen wie man selbst. Das tut gut“, sagt sie. Bruder Noa bringt es auf den Punkt: „Es geht sehr stark um Gemeinschaft. Wir kommen alle zusammen, egal welche Hautfarbe, Herkunft oder sexuelle Orientierung. Hier weiß jeder, warum er da ist.“ Und auch Françoise, die Mutter der beiden, ergänzt: „Er gibt jungen Leuten das Gefühl, dass sie nicht falsch sind. Dass sie das Recht haben, sie selbst zu sein. Das hilft nicht nur ihnen, das hilft auch uns Eltern.“
Ein Stück weiter sitzen Robin und Emely aus Deutschland – zwei, die man nicht übersehen kann. Auffälliges, verrücktes Make-up, außergewöhnliche Outfits, neon-grüne Plateaustiefel. Sie haben sich vor einer Weile auf einem Konzert der Vorband Palaye Royale kennengelernt, Nummern getauscht und den Trip nach Luxemburg gemeinsam angetreten. „Yungblud fühlt sich an wie Zuhause“, sagt Emely. „Er hat mir geholfen, meinen Stil, meinen Platz zu finden. Ich kenne meine Freunde heute durch ihn.“ Robin nickt: „Er ist einfach echt. Man spürt, dass er dankbar ist. Und diese Energie – das ist Wahnsinn.“
Kollektive Ekstase

Bereits die beiden Vorbands, Weather und Palaye Royale, bringen die Rockhal in Bewegung. Doch als Yungblud um 21.20 Uhr auf die Bühne stürmt, ja fast hüpft – wie ein Gummiball, elektrisch geladen, ungebremst – kippt die Stimmung in kollektive Ekstase um. „Welcome to your fucking family!“, schreit er ins Mikrofon und setzt damit den Ton des Abends. Yungblud betritt die Bühne in einer glänzenden Leopardenweste, die jedoch bereits während dem ersten Song in der Dunkelheit verschwindet; in tiefer als tief sitzender, hautenger Lederhose – auf die sogar die frühen 2000er eifersüchtig wären –, schwarzem Augen-Make-up, mit Sonnenbrille. Sein neuer Stil ist freier, provokanter als in den Anfangsjahren. Der gestählte, tätowierte Oberkörper glänzt im Bühnenlicht, seine Bewegungen sind fast tänzerisch.

Es folgt kein choreografiertes Spektakel, sondern rohe Energie. Spätestens bei „Lowlife“ steht niemand mehr still. „Ich will mehr Leute auf Schultern sehen!“, schreit er, und Sekunden später schaukeln Dutzende Fans über den Köpfen der Menge. Dann ruft er zur „Tongue Cam“ auf – wer auf der Leinwand erscheint, muss die Zunge rausstrecken. Niemand ist zu cool dafür.
Beim Song „Fleabag“ holt er Maxim auf die Bühne, ein 13-Jähriger aus den Niederlanden, um ihn auf der Gitarre zu begleiten. Und das tut er auch – souverän, lässig, und dabei nur ein paar Zentimeter von seinem Idol entfernt. „Ich hab’ auf YouTube gesehen, dass Fans manchmal auf die Bühne dürfen“, erzählt Maxim nach dem Konzert. „Also hab ich ein Schild gebastelt. Er hat’s gesehen, und plötzlich war ich oben. Es war einfach unglaublich.“

Von der ersten Reihe bis zur letzten Wand tanzt, schreit, schwitzt alles. Was folgt, sind zwei Stunden Chaos und Dauerenergie. „People tell me Luxembourg can be boring. You motherfuckers are fucking wrong!“, ruft er lachend ins Mikrofon. Er rennt, springt, tanzt über die Bühne, als wolle er es in Echtzeit widerlegen. Und tatsächlich: An diesem Abend lässt er der Langeweile keine Chance. Er spielt mit Androgynität, Sexualität, Freiheit – und reißt gleichzeitig jede Mauer zwischen sich und dem Publikum ein. Er flirtet, lacht, berührt, umarmt. Zwischen laszivem Glam und jugendlicher Wildheit bleibt er der Junge aus Doncaster, der nie in eine Schublade passte.
Nahbarkeit
Ein emotionaler Moment: Mitten im Sturm wechselt Yungblud von Wucht zu Zärtlichkeit. Plötzlich erklingt Black Sabbaths „Changes“ – seine Hommage an den kürzlich verstorbenen Ozzy Osbourne. Dieses Lied hatte er bereits beim großen Tributkonzert für Osbourne performt, einer der Kunstschaffenden, die ihn nachhaltig geprägt haben. Es ist fast 23 Uhr, als Yungblud „Zombie“ anstimmt, den letzten Song des Abends – eine düstere, hymnische Schlussnote seines aktuellen Albums „Idols“. Danach verspricht er, wiederzukommen. Knapp zehn Minuten nach Show-Ende kommt er noch einmal raus, macht Selfies, verteilt Umarmungen, lacht, hört zu.
Für viele ist dieser Moment der Beweis, dass seine „Family“-Philosophie keine Floskel ist. Auch wer mit seiner Musik – dieser Mischung aus jugendlicher Rebellion, Glamrock und Pop-Punk – nichts anfangen kann, spürt den Kern: eine Haltung gegen Gleichgültigkeit. Yungblud ist laut, wild, manchmal überdreht und vielleicht etwas zu sehr Rockstar. Aber er steht für etwas, das in einer zunehmend zynischen Welt selten geworden ist: Aufrichtigkeit. Wenn die Gesellschaft so funktionieren würde wie dieser Mikrokosmos, bräuchte die Weltbevölkerung deutlich weniger Therapiestunden.
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