Freitag26. Dezember 2025

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TheateraufführungWie „J’existe“ Menschen in Armut aus dem Schatten ins Scheinwerferlicht rückt

Theateraufführung / Wie „J’existe“ Menschen in Armut aus dem Schatten ins Scheinwerferlicht rückt
Ein Kunstprojekt mit Darsteller*innen, die in Armut leben: „J’existe“ Foto: Carole Theisen

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Durch ein ambitioniertes Zusammenspiel von Kunst und Menschlichkeit setzt das Projekt „J’existe“ ein kraftvolles Zeichen für Personen, die in prekären Verhältnissen leben und in unserer Gesellschaft ein Schattendasein fristen. Zu Besuch bei den Proben.

Initiiert durch die Menschenrechtsorganisation ATD Quart Monde und das Künstlerkollektiv MASKéNADA lädt das Projekt „J’existe“ das Publikum ein, Armut neu zu denken und sie gewissermaßen emotional zu erleben: Im Rahmen einer Theateraufführung am 16. November um 18 Uhr in der „Banannefabrik“ in Luxemburg-Stadt, eingebettet in eine zweitägige Veranstaltungsreihe mit Diskussionsrunde, taucht das Publikum in die Welt jener Menschen ein, deren Leben von Entbehrung, aber auch von Stärke geprägt ist.

Carlo Kieffer, Koordinator bei  ATD Quart Monde
Carlo Kieffer, Koordinator bei  ATD Quart Monde Foto: Carole Theisen
Wir wollen keine Opfer zeigen, sondern Menschen in prekären Situationen, die nicht nur leiden, sondern auch träumen, hoffen, leben. J’existe – das heißt: Ich existiere, ich bin hier, ich habe etwas zu sagen

Carlo Kieffer, Koordinator bei ATD Quart Monde

Carlo Kieffer, Koordinator bei ATD, bezeichnet das Projekt als „multidimensionalen Dialog“: „Wir wollen keine Opfer zeigen, sondern Menschen in prekären Situationen, die nicht nur leiden, sondern auch träumen, hoffen, leben. J’existe – das heißt: Ich existiere, ich bin hier, ich habe etwas zu sagen.“ Mit Worten, die berühren, mit Bewegungen, die Ausdruck verleihen, und mit Klängen, die Resonanz schaffen, entsteht so ein Raum, der Begegnung und Verständnis fördert.

Die Entstehung von „J’existe“ war ein Prozess voller Entdeckungen. „Was wir hier auf die Bühne bringen, ist das Ergebnis einer langsamen, geduldigen Arbeit. Es gab kein fertiges Skript, kein festes Ziel“, erläutert Kieffer. „In der ersten Phase haben wir einen Raum geschaffen, in dem sich die Menschen kennenlernen und austauschen konnten“, berichtet auch Mirka Costanzi von MASKéNADA. In dieser Phase sei es zentral gewesen, künstlerische Angebote zu entwickeln, die den Teilnehmer*innen helfen, ihre eigene Sprache und Ausdrucksformen zu finden. „Es geht nicht um fertige Kunstwerke, sondern um das Gefühl, das die Menschen in diesen Momenten erleben“, umschreibt Costanzi die Vorgehensweise, die sich ebenfalls in den nachfolgenden Projektphasen bewährte.

Besonders wichtig war dem Team der Ansatz, keine Schauspieler*innen aus den Teilnehmer*innen machen zu wollen, sondern ihnen lediglich eine Bühne zu bieten. MASKéNADA brachte Künstler*innen unterschiedlicher Disziplinen zusammen, die den Menschen die Möglichkeit boten, ihre eigenen Ausdrucksweisen zu erkunden. „Wir hatten alles dabei – Musik, Malerei, Graffiti, Tanz – und jede Form war für jemanden anderen von Bedeutung“, fügt Costanzi hinzu. Nach einer Zeit der Findung und Weiterentwicklung kristallisierten sich die künstlerischen und sozialen Ziele des Projekts heraus.

Eine Begegnung auf Augenhöhe

Für die Künstler*innen und Lai*innen waren gegenseitiger Respekt und Gleichwertigkeit essenziell. „Es herrscht eine strikte Hierarchiefreiheit“, sagt Costanzi. „Keiner steht über dem anderen – jeder bringt sich ein, jeder trägt seinen Teil bei.“ Ein zentraler Moment des Projekts war die sogenannte „Spruddelfabrik“, ein Workshop, in dem alle Teilnehmenden ihre Gedanken und Gefühle frei aus sich „heraussprudeln“ lassen konnten.

Mirka Costanzi von MASKéNADA übernahm die Produktionsleitung
Mirka Costanzi von MASKéNADA übernahm die Produktionsleitung Foto: Carole Theisen

Eine Teilnehmerin, Lena, die seit ihrer Kindheit leidenschaftlich schauspielert, erklärt bei den Proben, wie das Theater für sie zu einer Flucht und einem Heilmittel wurde. Seit acht Jahren ist sie mittlerweile beim ATD und das Schauspiel ermöglicht ihr, „von meinen Problemen loszukommen“. Sie betont den Zusammenhalt, den das Theater schafft, und wie es ihr Raum gibt, sich selbst herauszufordern und gleichzeitig den Alltag zu vergessen.

Es werden keine persönlichen Geschichten erzählt. Es geht vielmehr um die gemeinsamen Emotionen, die tiefer liegenden Dimensionen von Armut: die Einsamkeit, die Ausweglosigkeit und das Gefühl, nicht gehört zu werden.

Mirka Costanzi, Produktionsleiterin

Frei von Hierarchien sein ist das Ziel des Projekts
Frei von Hierarchien sein ist das Ziel des Projekts Foto: Carole Theisen

Das Finale bildet die Aufführung in der Banannefabrik. Dabei geht es nicht um eine Vorführung im klassischen Sinne, sondern um eine künstlerische Darstellung von Menschlichkeit. „Es werden keine persönlichen Geschichten erzählt,“ erklärt Costanzi. „Es geht vielmehr um die gemeinsamen Emotionen, die tiefer liegenden Dimensionen von Armut: die Einsamkeit, die Ausweglosigkeit und das Gefühl, nicht gehört zu werden.“ Es ist das Ergebnis von Jahren der Zusammenarbeit, ein Gefühl des Aufatmens und der Gewissheit, dass jeder Mensch – ganz gleich, wie seine Lebensumstände aussehen – es wert ist, wahrgenommen zu werden. „Es geht nicht um Perfektion“, sagt Costanzi mit Nachdruck. „Es geht darum, authentisch zu sein.“

Zu Besuch im Proberaum
Zu Besuch im Proberaum Foto: Carole Theisen

Die Aufführung am 16. November soll den Besucher*innen eine Erfahrung bieten, die über bloße Unterhaltung hinausgeht. „Für eine Stunde begegnet das Publikum Menschen, denen sie sonst vielleicht nur für ein paar Sekunden Beachtung schenken würden“, so Kieffer. Es ist ein Aufruf, die eigene Wahrnehmung von Armut zu hinterfragen und die stillen Stimmen wahrzunehmen, die am Rande der Gesellschaft stehen.

„J’existe“ beweist: Armut ist kein Schicksal, das isoliert, sondern eine Realität, die uns alle etwas angeht. Ein bedeutendes und menschliches Projekt, das Mut und Veränderung fördert und schlussendlich die Würde und den Wert jedes Einzelnen feiert.

J’existe

U.a. in Zusammenarbeit mit den Künstler*innen von ATD Quart Monde sowie von MASKéNADA (Luc Lamesch, Mady Durrer, Gianfranco Celestino, Luka Tonnar, Raphael Gindt, Sophie Meyer, Mandy Thiery) und Sänger*innen des Chors „Home Sweet Home“ des „Institut européen de chant choral“. Regie- und Produktionsteam: Laetitia Lang und Mirka Costanzi von MASKéNADA.
Die Aufführung findet am Samstag, dem 16. November, um 18 Uhr, in der Banannefabrik statt. Informationen zum Ticketkauf: maskenada.lu.

Rundtischgespräch

Am 15. November um 18.30 Uhr diskutieren in der Banannefabrik Expert*innen und Aktivist*innen über das Thema „Soziale und institutionelle Misshandlung“. Anwesend sind u.a. Claudia Monti (Ombudsfrau Luxemburg), Ginette Jones (Fondation Solina) und Markus Christen (ATD Vierte Welt Schweiz). Im Fokus steht die Rolle von Institutionen im Umgang mit Menschen in Armut. Der Eintritt ist frei, eine Reservierung nicht notwendig.