4. Dezember 2025 - 14.55 Uhr
50. TodestagWie Hannah Arendt bis heute durch ihre Philosophie die Gegenwart beeinflusst
Ob Hannah Arendt auch auf TikTok auftaucht? Wahrscheinlich. Und wenn nicht, dann sollte man sich schleunigst an einem solchen TikTok-Kanal versuchen, bevor es ein anderer macht. Auf Instagram, Facebook und X und überhaupt im ganzen globalen Social-Media-Netz ist die deutsch-amerikanische jüdische Philosophin, die heute vor 50 Jahren in New York an einem Herzinfarkt gestorben ist, überaus lebendig und präsenter als fast alle lebenden Kolleginnen.
Pop-Phänomen
Da poppen berühmte Sätze von ihr auf wie Kalendersprüche: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“ oder „Der größte Feind des Autoritären ist Verachtung und die beste Waffe dagegen ist das Lachen“; Schlagworte wie „Denken ohne Geländer“, „Denken ist gefährlich“ oder „Die Banalität des Bösen“ haben sich längst verselbstständigt oder sind längst zu kleinen Labels mutiert, die durch den Cyberspace flackern.
Eine einfache Suchanfrage im Netz ergibt auch mehr als ein Dutzend verschiedener „Hannah-Arendt-T-Shirts“ mit stilisierten Arendt-Bildern und/oder Zitaten, organic oder mit Kunstfasern – je nach Wunsch. Dazu kommen Kaffeetassen in jeder Lieblingsfarbe mit ähnlichen Motiven, und allen Ernstes auch eine Hannah-Arendt-Duftkerze, die mit einem gewagten „smells like Hannah Arendt“ beworben wird. Gewagt auch, weil die Kettenraucherin Arendt vermutlich im realen Leben vor allem nach ihrem Lieblingstabak geduftet hat. Etwas seriöser wirkt dann schon der Comic, der mit gewissem Geschick versucht, Arendts komplizierte und keineswegs immer erbauliche Thesen einem jungen Publikum näherzubringen.
Arendt im Film
Vor allem aber gibt es natürlich das Kino. Dort waren allein in den letzten zwölf Jahren drei neue Filme über Hannah Arendt zu sehen. Der bekannteste ist der auch luxemburgisch co-produzierte Spielfilm „Hannah Arendt“ von der deutschen Regisseurin Margarethe von Trotta, die schon mehrere prägende Frauengestalten porträtierte: Rosa Luxemburg, der Arendt ihr Buch über den Ungarn-Aufstand widmete und die sie in „Über die Revolution“ zur Verkörperung des Ideals direkter Demokratie stilisiert, Ingeborg Bachmann und Gudrun Ensslin, die als Bürgerrechtlerin im Geiste Arendts begann, bevor sie sich zur RAF-Terroristin radikalisierte.

Der Film als solcher hatte großen Erfolg. Denn von Trotta versucht keine umfassende Biografie „von der Wiege bis zur Bahre“, sondern konzentriert sich auf einen entscheidenden Moment: das Jahr 1962/63, in dem Arendt als bekannte öffentliche Intellektuelle nach Jerusalem reiste, um dort den Prozess gegen Adolf Eichmann, den ehemaligen Organisator des industriellen Massenmords durch Nazi-Deutschland, als Reporterin des New Yorker zu verfolgen. Daraus entstand Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“, und im Folgenden eine heftige Kontroverse um dessen provokative Thesen, die das Bild Arendts im letzten Jahrzehnt ihres Lebens prägte. Dieser Streit, der Bruch mit vielen Freunden und Weggefährten sowie Arendts Beweggründe sind das Thema des Films, dem es gelingt, fast das ganze Leben der Philosophin in diesem einen Lebensjahr zu verdichten.
Im Jahr 2015 kam dann „Vita Activa: The Spirit of Hannah Arendt“ von der Amerikanerin Ada Ushpitz ins Kino, ein Dokumentarfilm, der umfassend Arendts Denken und Leben für Kino erzählt. Währenddessen konzentriert sich der ebenfalls fürs Kino entstandene „Hannah Arendt: Facing Tyranny“ von Jeff Bieber stärker auf ihr politisches Denken und die Erfahrung von Diktatur, Flucht und Emigration. Die Schauspielerin Nina Hoss ist hier die filmische Stimme Arendts.
Auf YouTube sind alle diese Filme zu sehen. Aber noch viel mehr: In Vorlesungen und Reden, in Interviews und Radioessays tritt Arendt auch heutigen Zuschauern unmittelbar entgegen. Am berühmtesten ist das lange Fernsehinterview, das Arendt 1964 in der legendären Reihe „Zur Person“ mit Günter Gaus geführt hat.
Warum Arendt ankommt
All das bringt Arendt der Gegenwart nahe. Und es führt dazu, dass Arendt auch 50 Jahre nach ihrem Tod als absolut gegenwärtig erscheint. Im Gegensatz zu fast allen anderen Philosophinnen und Philosophen ist sie anschlussfähig an den Zeitgeist. Sie ist extrem beliebt bei der globalen Jugend, zitierfähig für Klimakämpfer, linke Bürgerrechtler, Antikommunisten, Demokratiekämpfer und Antisemitismusforscher. Woran liegt das?
Willi Winkler, Journalist und „Edelfeder“ der Süddeutschen Zeitung und ihr allerneuester Biograf, versteht diese Aktualität selbst nicht ganz: „Was medial funktioniert, sind nur Kalendersprüche. Arendt wäre heute überhaupt nicht internetfähig“, sagte Winkler im Gespräch, „weil sie zu kompliziert denkt. Also verständlich, aber abgewogen.“
Sicherlich hat ihr großer Gegenwartsruhm auch damit zu tun, dass Frauen in den letzten Jahrzehnten mehr Anerkennung gefunden haben. „Anders als ihre Lehrer Martin Heidegger und Karl Jaspers kann man sie verstehen“, sagt Winkler, „Sie hat zwar auch oft diese entsetzlich langen Sätze. Aber man weiß, wovon sie redet. Bei Heidegger weiß man das nie.“
Der mediale Erfolg ist nur möglich, weil er ein substanzielles Fundament hat. Weil Hannah Arendt eben nicht nur modisch ist, nicht nur die berühmteste Denkerin des 20. Jahrhunderts, und neben Simone de Beauvoir und Susan Sontag die einflussreichste; sondern weil sie zentrale Erfahrungen in Gedanken fasst und uns tatsächlich etwas zu sagen hat. Genau betrachtet ist Hannah Arendts Ruhm auch gar nicht so neu. Bereits zu ihrem 25. Todestag widmete ihr die Schweizer Kulturzeitschrift Du eine ganze Ausgabe. Unter dem Titel „Mut zum Politischen!“ ging es um Freiheit, die für Arendt die zentrale Erfahrung war.
Über Arendts Schriften
Das Entscheidende für Arendt war auch ihr Schicksal als deutsche Jüdin. Nach 1945 stellte sie sich der Erfahrung; nahm sie das ernst, was sie als Verantwortung begriff, die ihrer Bildung und der Freiheit, in der sie leben konnte, entsprach. Begreifen und deutlich machen, wo die Ursachen der Katastrophe lagen, darum ging es nun. Das dreibändige Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, das 1951 in Amerika erschien, wurde zu einer der wichtigsten analytischen Arbeiten, die den existenziellen Bedrohungen des 20. Jahrhunderts auf den Grund gingen: Antisemitismus, Imperialismus und totale Herrschaft.
Letztere hat Arendt im Gegensatz zu vielen nicht durch einen zu starken Staat, sondern im Gegenteil als Entstaatlichung und Herrschaft „des Mob“ durch Propaganda und Lüge, Ideologie und Terror zu erklären versucht; durch die Strukturen von Macht und Gewalt in der Industriegesellschaft. Später analysierte sie den Vietnamkrieg, den Rassenkonflikt in den USA und die Studentenrevolten der 60er-Jahre.
Bezug zur Gegenwart
Die sich schon damals abzeichnende heutige neue Welt, die nicht mehr die bürgerliche Arendts ist, hat sie früh gesehen, und vor den Exzessen der Massendemokratie ebenso gewarnt wie vor jenen der anonymen digitalen Verwaltung, die politische Macht an andere Mächte delegieren, die sie möglicherweise zu ungeahnter totalitärer Perfektion treiben.
Globale Netzwerke, die keine Besitzstände mehr veräußern, sondern Zugangsberechtigungen zu Informations-Ressourcen, die vollkommene Kontrolle der Einzelnen zum Besten aller, das Anpassen der Unangepassten und die freiwillige Knechtschaft in der Kulturindustrie, die die Abschaffung der Kultur vorantreibt – all das hat sie früh gesehen und beschrieben. Insofern ist es schön und erschreckend zugleich, in Hannah Arendt die Denkerin unserer Gegenwart zu erkennen.
Zum Weiterlesen
Willi Winkler: „Hannah Arendt. Ein Leben“; Rowohlt Verlag 2025
Grit Straßenberger: „Die Denkerin. Hannah Arendt und ihr Jahrhundert.“; Beck Verlag
Seyla Benhabib: „Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Moderne“; Suhrkamp Verlag
De Maart
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können