Dienstag21. Oktober 2025

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Buch „Nuclear Paradise“Wie Frankreichs Atomtests die Insel Hao bis heute prägen

Buch „Nuclear Paradise“ / Wie Frankreichs Atomtests die Insel Hao bis heute prägen
Ein alter Militärcontainer mit Blick auf die Lagune von Hao, Oktober 2021 Copyright: Laurent Sturm

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„Wir hatten fließendes Wasser, Strom und jeden Tag Steak Frites“, schwärmen die Bewohner*innen der Pazifikinsel Hao von der Zeit des „Centre d’expérimentations du Pacifique“. Die nukleare Testphase brachte Luxus, aber zu welchem Preis? Heute ist die Infrastruktur ein Schatten ihrer selbst, wie das Buch „Nuclear Paradise“ von Lis Kayser und Laurent Sturm zeigt.

Über drei Jahrzehnte hinweg stand Hao im Schatten von Frankreichs nuklearen Ambitionen und ist heute ein Ort des Widerspruchs: paradiesisch und toxisch, nostalgisch und traumatisiert. Lis Kayser, Doktorin der Anthropologie, und der Fotograf Laurent Sturm haben diese ambivalente Realität in ihrem gemeinsamen Buch „Nuclear Paradise“ dokumentiert. Es präsentiert den Stolz der Bewohner*innen auf ihre Geschichte und ihre Bemühungen, aus den Relikten des Militärs ein kulturelles Erbe zu machen. Gleichzeitig wirft es Fragen nach der Verantwortung Frankreichs und der globalen Gemeinschaft auf.

Blick ins Buch
Blick ins Buch Foto: Carole Theisen

Kayser selbst bezeichnet ihren Einstieg in die Nuklearforschung als Glücksfall. Sie war Ende 20, hatte ihren Master in Anthropologie frisch in der Tasche und war auf der Suche nach einer beruflichen Perspektive, als sie auf eine Ausschreibung des Danish Institute for International Studies (DIIS) stieß. Das Thema: Die Nachwirkungen von Atomtests in der Südsee.

„Ich hatte keine Ahnung von Atomtests oder Französisch-Polynesien. Aber die Idee, in den Pazifik zu reisen und die Spuren eines kolonialen Kapitels zu erforschen, hat mich sofort gereizt“, erinnert sie sich. „Ich war jung und wollte Abenteuer. Die Idee, bezahlt zu werden, um Bücher zu lesen, Konferenzen zu besuchen und Feldforschung in der Südsee zu machen, klang fast zu gut, um wahr zu sein“, lacht sie. Doch die Realität war komplexer.

Hotspot für Atomtests

Lis Kayser (l.) und Laurent Sturm (r.) mit ihrem Buch „Nuclear Paradise“
Lis Kayser (l.) und Laurent Sturm (r.) mit ihrem Buch „Nuclear Paradise“ Foto: Carole Theisen

Die erste Herausforderung: der Zugang zur lokalen Gemeinschaft. „Französisch-Polynesien besteht aus 118 Inseln. Wie findet man den richtigen Ort für eine ethnografische Feldforschung?“ Kayser nutzte ihre ersten drei Monate vor Ort, um Kontakte zu knüpfen und die passende Region zu identifizieren. „Ich habe mit Anthropolog*innen, Historiker*innen und lokalen Forscher*innen gesprochen. Ohne dieses Netzwerk wäre ich verloren gewesen.“

Zwischen 1966 und 1996 diente die Insel als logistische Drehscheibe für Frankreichs Atomtests. Während die Explosionen in der Nähe von Moruroa und Fangataufa stattfanden, war Hao der Ort, an dem Flugzeuge dekontaminiert und radioaktive Proben analysiert wurden. Die Militärbasis verwandelte das ruhige Atoll: Von den rund 200 Bewohner*innen in den frühen 1960er Jahren wuchs die Bevölkerung zeitweise auf über 5.000 an. Doch mit dem Abzug des französischen Militärs im Jahr 2000 folgte ein dramatischer Bevölkerungsexodus. Heute leben noch etwa 1.000 Menschen auf Hao.

Ein „Goldenes Zeitalter“?

Portrait von Mamie Blue International, einer lokalen Institution: Zur Zeit der Militärbasis besaß Mamie Blue eine Bar und schwärmt bis heute von der „époque militaire“, November 2021
Portrait von Mamie Blue International, einer lokalen Institution: Zur Zeit der Militärbasis besaß Mamie Blue eine Bar und schwärmt bis heute von der „époque militaire“, November 2021 Copyright: Laurent Sturm

In ihren Gesprächen auf Hao stieß Kayser auf ein wiederkehrendes Thema: Nostalgie. Für viele Bewohner*innen von Hao war die Ära des „Centre d’expérimentations du Pacifique“ (CEP) eine Zeit des Wohlstands. Die Infrastrukturen des CEP – Straßen, Häuser, Elektrizität – brachten tatsächlich einen Fortschritt, der für die abgelegene Inselgruppe zuvor undenkbar gewesen war. „Die Älteren erinnern sich an die Atomtest-Ära als eine ,Goldene Zeit‘“, erklärt sie. „Für viele Bewohner*innen war das eine Zeit des Fortschritts. Es gab Jobs, Geld, Bars – sogar ein Kino und jeden Tag Steak Frites. Die Insel war ein sozioökonomisches Zentrum“, sagt Kayser.

Ein bittersüßer Rückblick, denn dieser Wohlstand war vergänglich. Mit dem Ende der Tests zog das französische Militär ab und hinterließ ein toxisches Erbe: kontaminierte Böden, verfallene Gebäude, eine Lagune voller Müll und ein sozioökonomisches Vakuum, das bis heute nachwirkt. Die Tourismusindustrie, die in anderen Teilen Polynesiens boomt, hat Hao kaum erreicht – zu abgelegen, zu belastet von seiner Vergangenheit.

Das Militär brachte Tausende Männer auf eine Insel mit nur wenigen Frauen. Es entstanden Beziehungen, die oft einseitig waren. Viele Frauen wurden mit Kindern zurückgelassen, deren Väter sie nie anerkannten.

Lis Kayser, Anthropologin

Trotzdem nennen viele Bewohner*innen die militärischen Relikte „Kulturerbe“. Fotograf Laurent Sturm beschreibt den Zustand der alten Militärgebäude: „Viele Häuser wurden abgerissen, weil sie asbestverseucht waren. Andere wurden von den Bewohnern übernommen – oft ohne fließendes Wasser.“ Kayser warf in einem Interview mit den Bewohner*innen von Hao die Frage auf, warum sie nicht vom Fischfang leben. Eine Frage, die nach hinten losging, denn die Antwort kam prompt: „Würdest du leben wollen wie deine Urgroßeltern?“

Ein besonders düsteres Kapitel betrifft die Frauen der Insel. „Das Militär brachte Tausende Männer auf eine Insel mit nur wenigen Frauen“, berichtet Kayser. „Es entstanden Beziehungen, die oft einseitig waren. Viele Frauen wurden mit Kindern zurückgelassen, deren Väter sie nie anerkannten.“

Der fotografische Einstieg

Die beiden Fischer Felix und Marama, kurz nachdem sie einen 80 Kilogramm schweren Thunfisch gefangen haben, Oktober 2021
Die beiden Fischer Felix und Marama, kurz nachdem sie einen 80 Kilogramm schweren Thunfisch gefangen haben, Oktober 2021 Copyright: Laurent Sturm

„Ich wusste nicht, was mich erwartet. Aber ich wusste, dass ich dabei sein wollte.“ So beschreibt Laurent Sturm, freischaffender Fotograf aus Luxemburg und Lebenspartner von Lis Kayser, seinen Einstieg in das Projekt. Während Kayser ihre zweite Feldforschung auf Hao plante, war Sturm gerade dabei, eine persönliche Auszeit zu nehmen. „Ich hatte lange den Wunsch, ein großes dokumentarisches Fotoprojekt zu realisieren. Da kam Lis mit ihrer Idee – es passte perfekt“, erinnert er sich. Für Sturm war die Zusammenarbeit mit Kayser eine ideale Partnerschaft. „Normalerweise braucht man als Fotograf bei solchen Projekten immer jemanden vor Ort, der Kontakte herstellt. Lis hatte schon alles vorbereitet, die Türen standen offen, und die Leute haben uns mit offenen Armen empfangen“, erzählt er.

Beim ersten Besuch war Lis noch die ‚seltsame weiße Frau‘, die keiner so recht einordnen konnte. Beim zweiten Mal, als ich dabei war, war es einfacher.

Laurent Sturm, Fotograf

Mit seiner jahrelangen Erfahrung in der Fotografie hatte er die Aufgabe, das Leben auf Hao in all seinen Facetten festzuhalten: die nostalgischen Erzählungen der Älteren, die improvisierten Wohnverhältnisse in den verlassenen Militärgebäuden und die Spuren, die das nukleare Erbe hinterlassen hat. Mit einer Mischung aus Neugier und Respekt tauchte Sturm in die Welt von Hao ein. „Am Anfang war ich wie ein Assistent für Lis – ich habe dokumentiert, wen sie traf und was sie erforschte. Doch nach und nach entwickelte ich meinen eigenen Zugang“, beschreibt er den Prozess. Seine Kamera begleitete die Interviews und erweiterte die Arbeit um eine visuelle Dimension: Porträts, verfallene Militärbauten, die Landschaft – alles, was die nukleare Vergangenheit und das gegenwärtige Leben einfing. „Ich habe so viel Material gesammelt, wie ich konnte. Am Ende war die Herausforderung, daraus eine zusammenhängende Geschichte zu machen“, sagt er. Das Ergebnis ist eine eindringliche visuelle Erzählung, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Kayser ergänzt.

Zum Buch

Das Buch „Nuclear Paradise“ von Lis Kayser und Laurent Sturm ist in der Librairie Diderich in Esch und bei der Librairie Ernster erhältlich.

Ein zentraler Aspekt für den Erfolg des Projekts war das Vertrauen der Bewohner*innen von Hao. „Beim ersten Besuch war Lis noch die ‚seltsame weiße Frau‘, die keiner so recht einordnen konnte“, erzählt Sturm. „Beim zweiten Mal, als ich dabei war, war es einfacher. Die Tatsache, dass Lis ihre Familie mitgebracht hat, hat dazu geführt, dass sie sich uns viel stärker geöffnet haben.“ Er erinnert sich besonders gerne an die gemeinsamen Ausflüge mit den Bewohner*innen. „Ich war oft fischen und habe dabei einige meiner besten Bilder gemacht.“

Ein Fazit ohne Schwarz und Weiß

Traditionelle Lieder und Musik für eine Hochzeit, Hao, November 2021
Traditionelle Lieder und Musik für eine Hochzeit, Hao, November 2021 Copyright: Laurent Sturm

„Nuclear Paradise“ nimmt seine Leser*innen mit auf eine faszinierende Reise voller Gegensätze. Es vereint ausdrucksstarke Fotografien mit tiefgründigen Texten, die das Leben auf dem Atoll aus verschiedenen Perspektiven beleuchten: Verlassene Militäranlagen, von der Natur überwuchert, intime Porträts der Bewohner*innen und historische Archivaufnahmen, die den Wandel der Insel sichtbar machen.
Das Projekt wurde maßgeblich durch die Unterstützung des „Centre national de l‘audiovisuel“ (CNA) ermöglicht, das eine spezielle Bourse für Fotoprojekte zur Verfügung stellte. „Ohne diese Förderung wäre es kaum möglich gewesen, das Projekt in dieser Form zu realisieren“, sagt Sturm.

Jede Seite erzählt von der Ambivalenz zwischen Fortschritt und Verlust, von der Nostalgie einer „glorreichen“ Vergangenheit und von den Herausforderungen des heutigen Insellebens. Ein Buch, das nicht nur visuell begeistert, sondern auch Denkanstöße liefert und das Bewusstsein für eine wenig bekannte Welt öffnet.