„Wir sind das Projekt langsam angegangen, doch dann haben wir richtig Gas gegeben“, sagt Bernard Baumgarten (Direktor Trois C-L) im Gespräch mit dem Tageblatt. Zu dem Zeitpunkt sind es nur noch wenige Tage bis zum „Aerowaves Dance Festival Luxembourg“, das er 2015 zusammen mit Ainhoa Achutegui (Direktorin Neimënster) ins Leben rief. Das biennale Event zieht sich dieses Jahr über vier Tage und hält neun Performances bereit. Schauplätze sind die Banannefabrik und das Neimënster in Luxemburg-Stadt.
Aerowaves, das Netzwerk
Wie das Netzwerk Aerowaves entstand
Die Plattform Aerowaves entstand auf Initiative von John Ashford: Im Jahr 1996 trommelte der damalige Direktor des Londoner Tanz- und Choreografiezentrums The Place europäische Kolleg*innen zusammen, um Kassetten zu sichten, mit denen sich junge Tanzkompanien aus Europa an ihn gewandt hatten. Er suchte nach internationaler Unterstützung und Fachwissen, um zehn Produktionen auszuwählen. Diese wollte er im Anschluss im The Place präsentieren. Inzwischen ist das Netzwerk stark gewachsen, bietet unterschiedliche Aktivitäten und Events an. Wer mehr wissen mag: aerowaves.org.
Damals wie heute schöpfen Achutegui und Baumgarten bei der Programmgestaltung aus dem Katalog der Plattform Aerowaves – eines Verbundes, der aus 46 paneuropäischen Partnerorganisationen, verteilt auf 34 Länder, besteht. Jedes Jahr benennen die Mitglieder die 20 vielversprechendsten Tanzschaffenden Europas. Nun hat sich Europa in den vergangenen zehn Jahren stark verändert – beispielsweise durch den Rechtsruck in zahlreichen Mitgliedsstaaten und aufgrund multipler Krisen. Wirkt sich das auf die Zusammenarbeit aus?
Baumgarten ist Teil der Jury, die in der Regel über 800 Kandidaturen sichten muss. Er gibt Entwarnung: Konservative und feindselige Stimmen würden sich in dem Netzwerk nicht zurechtfinden. „Wir verfolgen alle dasselbe Ziel: Wir wollen Talente fördern, die neue Perspektiven aufzeigen“, so Baumgarten. Der zeitgenössische Tanz lebe von seinem Erfindungsgeist, von seiner Offenheit gegenüber neuen Technologien und Ausdrucksformen. „Jede Generation versucht, neue Wege zu beschreiten, auch wenn Ikonen wie Pina Bausch oder William Forsythe wichtig bleiben“, führt er weiter aus. „Es kommt jedes Jahr vor, dass sich selbst mir avantgardistische Stücke nicht erschließen, bevor ich sie live gesehen oder mich mit anderen darüber ausgetauscht habe.“ Die Wahl der Top 20 dauere jedenfalls Wochen.
Luxemburg auf der Weltkarte

Für das Festival in Luxemburg bedienen er und Achutegui sich bei den Produktionen, die es in die letzten Auswahlrunden schafften. Im Vergleich zu 2015 sind das immer öfter Produktionen beziehungsweise Tanztalente aus Luxemburg. „Die luxemburgische Tanzszene gewinnt international zunehmend an Anerkennung“, sagt Baumgarten. „Vor wenigen Wochen waren sechs Kompanien aus Luxemburg beim Festival ‚Fringe’ in Edinburgh – und sie traten teilweise vor ausverkauften Rängen auf. Die luxemburgischen Tanzschaffenden touren im Ausland, große Kompanien übernehmen ihre Choreografien: Luxemburg steht auf der Weltkarte des Tanzes.“ Beim diesjährigen „Aerowaves Dance Festival Luxembourg“ sind drei nationale Choreograf*innen – Sarah Baltzinger, Isaiah Wilson, William Cardoso – vertreten. Darüber hinaus tritt der Luxemburger Tänzer Louis Steinmetz in „Born by the Sea“ von Fran Díaz auf.
Neben der Förderung der nationalen Tanzszene, schreiben sich Achutegui und Baumgarten aber auch „Zugänglichkeit“ auf die Fahne. Zwar sei es ihnen wichtig, die Variationen des zeitgenössischen Tanzes aufzuzeigen, so Achutegui, aber: „Manche Stücke begeistern uns, doch wir empfinden sie als unzugänglich für unser Publikum. Auf solche Produktionen verzichten wir – wir wollen nämlich auch Menschen ansprechen, die diese Kunstform erst kennenlernen wollen.“ In dem Sinne kuratieren sie und Baumgarten auch die Festivaltage. Das Programm ist nach Themenblöcken geordnet. „Wir versuchen, Stücke zusammenzubringen, die inhaltlich zueinander passen, ohne sich zu ähnlich zu sein“, sagt Achutegui. „Wir wollen dem Publikum ermöglichen, jeden Tag etwas Neues zu entdecken. Gleichzeitig sollen die Stücke sowohl einzeln als auch als Ganzes interessant sein.“
Doch wie setzt sich das Publikum zusammen, von dem Achutegui spricht? Das Festival findet laut der Programmleitung großen Anklang bei jungen Tanzschaffenden. Viele Besucher würden sich einen Festivalpass besorgen, der den Eintritt zu allen Vorstellungen ermöglicht. „Dieses Jahr laden wir – in Zusammenarbeit mit Kultur | lx – zum ersten Mal explizit Profis des Tanzsektors ein“, fügt Baumgarten hinzu. „Es haben bereits einige zugesagt und wir sind gespannt, was sich aus diesem Zusammentreffen ergibt.“
Was es zu sehen gibt

Stellt dies eine Neuerung dar, so bleibt die inhaltliche Auslegung des Festivals unverändert, oder anders formuliert: Die Tanzenden geben jedes Mal die Themen vor. „Der Tanz ist ein Spiegelbild der heutigen Gesellschaft. Die Relevanz der Themen variiert über die Jahre hinweg, einige Sujets bleiben wichtig“, erklärt Baumgarten. „Aktuell befassen sich viele mit Gender, Beziehungen, Migration oder Gewalt. Das sind Themen, die schon immer im zeitgenössischen Tanz behandelt wurden.“
Gleichzeitig würden gesellschaftspolitische Entwicklungen den Tanzsektor prägen, so etwa Migration. „Der europäische Tanz verändert sich dadurch, dass immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund ihn mitgestalten“, sagt Baumgarten. „Es ist eine Bereicherung, Elemente aus dem Mittleren Osten, Afrika oder anderen Regionen einzubinden.“ Die einzige Herausforderung bestehe darin, die Qualität unbekannter Tanzstile zu bewerten. In dem Zusammenhang erinnert Baumgarten sich an die Produktion eines dänischen Urvolkes, das der Jury von „Aerowaves“ vorlag. „Menschen, die isoliert leben, haben andere Ausdrucksformen“, stellt er fest. „Für uns ist es schwer, die Choreografien nach unseren gängigen Kriterien einzuordnen.“
Über die Frage nach ihren Höhepunkten bei der diesjährigen Ausgabe des Festivals denken Achutegui und Baumgarten hingegen nicht lange nach. „‚Shiraz‘ von Armin Hokin. Das Stück hat mich völlig aus der Fassung gebracht“, antwortet Achutegui ohne zu zögern. „Es ist minimalistisch, echt besonders – und genau deshalb ein ganz neues Erlebnis.“ Ausgangspunkt für das Stück ist das ‚Festival des arts de Shiraz’, das zwischen 1967 und 1977 im Süden des Irans stattfand. Sechs Tanzende erinnern an das historische Festival, das neben performativer Kunst auch Debatten und Symposien bereithielt. Es wurde vom Schah Mohammad Reza Pahlavi zum Nation Branding des Irans gegründet. Nach nur drei Ausgaben boykottierten Kunstschaffende das Event aus Protest gegen sein autoritäres Regime. 1978, also ein Jahr vor der iranischen Revolution, wurde das Festival aufgrund politischer Spannungen abgesetzt.
Aerowaves Dance Festival Luxembourg
Das Tanzfestival steigt vom 3. bis zum 5. September im Kulturzentrum Neimënster und in der Banannefabrik in Luxemburg-Stadt. Weitere Informationen sowie das Programm finden Sie auf den Websites der Veranstaltungsorte: neimenster.lu und danse.lu.
Politik spielt auch in „The Body Symphonic“ von Charlie Khalil Prince eine Rolle – eine Produktion, auf die sich Bernard Baumgarten besonders freut. In der Stückbeschreibung steht, die Produktion sei Prince’ Antwort auf die multiplen politischen Krisen im Libanon. Ist der Körper ein Ort der Resistenz, der Liberation? Mit diesen und anderen Fragen befasst sich der Choreograf. Baumgartner hat das Stück erst im April live gesehen, doch er war schon davor überzeugt: „Die Videoaufzeichnung hatte mich positiv überrascht, dann musste die Performance vor Ort beeindruckend sein.“
Haben Achutegui und Baumgarten ihre Wahl also bereits getroffen, bieten sie Unentschlossenen eine Beratung an: Jene könnten sich gerne im Neimënster oder im Trois C-L über das Angebot informieren und sich Stücke empfehlen lassen, die zu ihren Interessen passen. Baumgarten unterstreicht: „Das ‚Aerowaves Dance Festival Luxembourg’ ist ein Festival für alle.“
De Maart

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