Tageblatt: William Cardoso, Sie sind zum ersten Mal Teil des Aerowaves Dance Festival Luxembourg, das seit 2015 Tanzbegeisterte aus der ganzen Welt zusammenbringt. Wie fühlen Sie sich?
William Cardoso: Ich bin dankbar. Jede Einladung zu einem Festival ist ein Erfolg für das Team und keine Selbstverständlichkeit.
Auf dem Programm steht „Baby“: eine Choreografie für zwei Personen, die Sie 2023 abschlossen. Wie hat sich Ihr Verhältnis zu dem Stück inzwischen verändert?
Müsste ich unseren Beziehungsstatus beschreiben, würde ich „Es war kompliziert“ wählen. Am Anfang wusste ich nicht wohin mit meinen vielen Ideen. Ich hätte Hilfe von einer Dramaturgin und einem größeren Team gebraucht, doch dafür fehlten mir die Mittel. Nach der Premiere im Escher Theater war ich unzufrieden. Im Zuge meiner Residenz im Kinneksbond in Mamer habe ich das Stück deswegen radikal verändert, auch von der Dramaturgie her. Mit der aktuellen Fassung habe ich mich 2024 bei Aerowaves beworben – ich versuche mein Glück jedes Jahr. Zwar habe ich es nicht in die Top 20 geschafft, aber Bernard Baumgarten vom Trois C-L hat mich dennoch zum Festival eingeladen.

Wie nah sind Ihnen die Themen des Stücks – innere Zerrissenheit, Gewalt – heute?
Gewalt ist allgegenwärtig in unserer Gesellschaft und das Thema bleibt wichtig für mich. Was sich verändert hat, ist die Lebensphase, in der ich mich befinde. Meine eigene Geschichte ist der Ausgangspunkt meiner Choreografien und ich stehe heute woanders als damals. Das fällt mir besonders im Vergleich zu meinem aktuellen Projekt „Deadline“ auf: Dort befasse ich mich mit dem Willen, aus negativen Verhaltensmustern auszubrechen und – im übertragenen Sinne – Licht zu finden. In „Baby“ geht es eher um innere Konflikte oder auch darum, dass ich schwierige Situationen durchstehen musste, um Liebe zu spüren. Es ist schön, meine persönliche Weiterentwicklung anhand meiner Stücke nachzuverfolgen. Sie stellen den Lebenslauf meiner Emotionen dar. (lacht)
Warum sind Ihnen diese Sujets wichtig?
Am Anfang meiner Karriere dachte ich „Hey, ich bin ein emotionaler Mensch, der die Bühne braucht, um sich zu öffnen“, doch im Laufe der Zeit nahm meine Arbeit andere Dimensionen an.
Was meinen Sie damit?
Während meines Studiums musste ich ein zehnminütiges Stück präsentieren. Ich entschied mich für eine Choreografie über mein schweres Coming-out. Ich hatte den Drang, das rauszulassen. Es sollte kein politisches Stück sein. Später zog ich mich in einem Studio in Berlin zurück und arbeitete an meiner zweiten Produktion „Dear mum“ (2022, Anm. d. Red.). Auch dort beschäftige ich mich mit meinem Coming-out und den damit verbundenen Problemen. Erst im Austausch mit dem Publikum begriff ich: Nicht jeder Mensch versteht, wie herausfordernd ein Coming-out sein kann. In dem Moment wurde mir bewusst, dass meine Arbeit politisch und queer ist.
Inwiefern prägte das Ihr Schaffen?
Ich verstehe Künstler als Menschen mit einer Mission, derer sie sich bewusst sein müssen. Ich höre beispielsweise oft Aussagen wie ‚Die LGBT+-Community regiert die Welt‘, dabei stimmt das nicht. Die Community stellt weiterhin eine marginalisierte Minorität dar. Wir erleben weltweit einen Rückgang bezüglich der LGBT+-Rechte. Ich will dem etwas entgegensetzen und mein Privileg als schwuler, weißer Tänzer aus Luxemburg nutzen, um solche Themen auf die Bühne zu bringen.
Wer ist William Cardoso?
Der 31-Jährige schloss 2018 seine Tanzstudien an der Epsedanse in Montpellier ab. Er ist auf zeitgenössischen Tanz spezialisiert, aber auch in Jazz und Ballett ausgebildet. Bisher arbeitete er unter anderem mit Jill Crovisier, Léa Tirabasso, Valerie Reding, Olivier Dubois und Tebby Ramasike zusammen. 2020 gründete er die William Cardoso Company; 2023 erhielt er das Stipendium „Expédition“ von Kultur:lx, das noch bis Ende des Jahres gilt. Er bewarb sich mit dem Projekt „Deadline“. Cardoso lebt und arbeitet in Lissabon und Luxemburg.
Sie sprechen von Privilegien, wuchsen aber als Kind einer portugiesischen Arbeiterfamilie in Esch auf. Erschwerte das den Zugang zum Kultur- und Tanzsektor?
Absolut. Ich bekam von Kindesbeinen an zu spüren, dass ich nicht dazugehöre. Meine Mutter war Putzfrau, mein Vater Maurer. Sie können sich vorstellen, dass ich mich im Escher Konservatorium erst mal fehl am Platz fühlte. Gleichaltrige aus luxemburgischen Familien wirkten gebildeter auf mich. Sie verstanden mehr von Kultur und von Tanz, hatten Zugang dazu. Ich nicht. Ich fühlte mich nie willkommen in Esch. Erst als ich in der Tanzszene ankam, stieß ich auf Offenheit und auf ein Gemeinschaftsgefühl. Früher war ich der Junge mit dem ausländischen Nachnamen, heute ist ausgerechnet dieser Name im Tanzbetrieb ein Begriff.
Wie reagieren das Publikum und die Institutionen auf Ihre Stücke?
Meine Stücke sind „rough“, das heißt am Ende gibt es öfter bewegte Gesichter als tosenden Applaus. Manchmal sind die Reaktionen extremer. Ich erinnere mich an einen Auftritt bei einem Festival in einem kleinen Ort in Frankreich. Damals führte ich „Dear mum“ auf, in weißer Unterhose und mit nacktem Oberkörper. An einer Stelle kehrte ich dem Publikum den Rücken und zeigte gewaltvolle Bewegungen. Als ich mich umdrehte, war die Hälfte dabei, den Saal zu verlassen. Das war krass, doch es gehört dazu. Was die Institutionen angeht: Nicht alle Theater sind an meinen Produktionen interessiert, aber das war auch nie mein Ziel. Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.
Diese Haltung passt zur Beschreibung der William Cardoso Company, die Sie 2020 gründeten: „The company is driven by a desire for change and a rage against injustice.“ Wogegen wehren Sie sich?
Tanz war immer mein „escape room“, bis ich anfing, zu arbeiten. Ich habe viele körperliche, verbale und psychische Gewalt sowie Ungerechtigkeiten erlebt. Das ging so weit, dass ich mit der Tänzerin und Choreografin Anne-Mareike Hess, Ainhoa Achutegui (Direktorin Neimënster, Anm. d. Red.) und Bernard Baumgarten (Direktor Trois C-L) 2022 die Plattform „Unmute Power Abuse“ ins Leben rief, die sich gegen Gewalt in der performativen Kunst einsetzt und Betroffenen eine Anlaufstelle bietet. Warum verspüre ich diesen Drang, Dinge zu ändern? Weil ich anderen ersparen will, was ich durchmachen musste. In dem Sinne achte ich in meiner Arbeit darauf, Menschen respektvoll zu behandeln.
Was bedeutet das in der Praxis?
Zu Beginn jeder Probe halten wir ein „Check-in“ ab: Jede Person teilt mit, wie es ihr geht und wozu sie an dem Tag fähig ist. Es gibt Tage, an denen will man keinen Körperkontakt oder mag sich nicht entblößen – Nacktheit spielt eine zentrale Rolle in meinen Werken. Es ist wichtig, diese Grenzen zu ziehen. Die Tanzenden sollen jederzeit ein Mitspracherecht haben und den Raum, sich in Sicherheit zu entfalten. Deswegen berühre ich sie auch nie ohne ihre Erlaubnis. In meiner Tanzschule war das anders: Der Ballettlehrer fasste uns ungefragt und grob an, noch dazu beleidigte und erniedrigte er die Mädchen aufs Übelste. Ich dachte, das gehört zum Tanz dazu. Jetzt, wo ich meine eigene Kompanie aufbaue, sehe ich, dass ein anderer Umgang möglich ist.
Zum Aerowaves Dance Festival
Das Aerowaves Dance Festival Luxembourg, 2015 von Ainhoa Achutegui und Bernard Baumgarten gegründet, ist ein biennales Event für zeitgenössischen Tanz. Die Programmleitung schöpft dabei aus dem Katalog des europäischen Netzwerks Aerowaves: Die Mitglieder, darunter Baumgarten, wählen jährlich 20 vielversprechende Produktionen aus. In Luxemburg werden die Stücke gezeigt, die es in die letzten Auswahlrunden geschafft haben, wenn auch nicht in die Top 20. Das Tageblatt berichtete zum Festivalauftakt am 3. September ausführlich.
Ist das auch eine Generationsfrage?
Sicherlich. Meine Generation nimmt sich das Recht heraus, Missstände offener anzusprechen. Sie will nachhaltig etwas verändern. Ich selbst erlaube es mir, Projekte abzusagen oder eine Kompanie zu verlassen, wenn das Arbeitsumfeld toxisch ist.
Und woran bleiben Sie stattdessen dran?
Am 11. und am 12. November feiert „Deadline“ Premiere im „Grand Théâtre de la ville de Luxembourg“. Im Anschluss will ich mich auf das Schreiben und Reisen konzentrieren, neue Ideen sammeln und mir überlegen, wie ich mich konkret für eine bessere Welt engagieren kann.
William Cardoso, „Baby“, am Freitag, dem 5. September, ab 19 Uhr im Trois C-L/Banannefabrik. Mehr Infos auf danse.lu.
De Maart

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