Sonntag9. November 2025

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Mehr als GebäckWie Croissants für Kate Reid zu Lebensrettern wurden – und die Australierin zur Ikone machten

Mehr als Gebäck / Wie Croissants für Kate Reid zu Lebensrettern wurden – und die Australierin zur Ikone machten
Croissants retteten Kate Reid das Leben. Heute führt sie ein erfolgreiches Unternehmen. Foto: Kate Reid privat

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Goldbraun, buttrig und luftig: Croissants sind für Kate Reid mehr als Gebäck. Sie wurden zur Rettungsleine in einer Lebenskrise – und machten die Australierin zur Ikone der internationalen Pâtisserie.

Außen knusprig, beim Hineinbeißen zerbröselt die hauchdünne Kruste wie zartes Porzellan. Innen dagegen: weiche, butterige Schichten, fein verästelt, luftig und doch von präziser Struktur. Wer ein Croissant aus der Bäckerei Lune in Melbourne kostet, versteht sofort, warum die New York Times einst schwärmte, hier könne man die „besten Croissants der Welt“ finden. Hinter diesen Kunstwerken aus Teig und Butter steht Kate Reid, eine Frau, deren Lebensweg ebenso ungewöhnlich ist wie ihr Gebäck.

Denn die Croissants retteten ihr das Leben. Heute führt Reid ein erfolgreiches Unternehmen mit sieben Filialen, sie beschäftigt 300 Mitarbeitende, wurde in Frankreich für ihre Verdienste um die Pâtisserie mit dem „Ordre du mérite agricole“ ausgezeichnet und bringt demnächst ihre Memoiren mit dem Titel „Destination Moon“ heraus. Doch bevor der Duft von frisch gebackenem Blätterteig sie zurück ins Leben führte, stand Reid am Rand des Abgrunds.

„Ich weiß nicht, ob viele Menschen sagen können, dass sie in einer Bäckerei eine überwältigende Erfahrung hatten – aber genau das war es für mich“, erinnert sie sich in der ABC-Sendung „Australian Story“ an jenen Moment 2010, als sie die Türen der Pariser Kultbäckerei „Du Pain et des Idées“ durchschritt. Für Kate Reid war es der Beginn eines neuen Lebens.

Um die Bedeutung dieses Augenblicks zu verstehen, muss man jedoch zurückblicken – auf eine junge Frau aus Melbourne, die beinahe an Anorexie zerbrach und deren Weg zunächst in eine ganz andere Richtung führte.

Vom Windkanal in die Sackgasse

Ihr Vater Bob war Ingenieur und Motorsportfan. Gemeinsam schauten sie nachts Formel-1-Rennen, bis das Brummen der Motoren zur Verheißung wurde. Mit 13 nahm er sie zum ersten Mal mit zum Grand Prix in Melbourne. „Es war nur ein Rauschen, ein Geräusch, eine Vibration. Ich hatte nie zuvor so eine Anziehungskraft gespürt“, sagt Reid. Noch am selben Tag schrieb sie ihr „Formel-1-Gelöbnis“ nieder: Bestnoten im Abitur, Studium der Luft- und Raumfahrttechnik, Job in einem F1-Team vor dem 25. Geburtstag.

Alles erfüllte sie, sogar zwei Jahre schneller als geplant. Mit 23 stand sie im Windkanal von Williams in England – als einzige Frau in einem Team von 120 Technikern, ohne eigene Toilette, in endlosen 16-Stunden-Tagen vor dem Computer. „Ich war einfach nur ein Affe, der vor dem Bildschirm saß und Teile entwarf, auf die ich keinerlei Einfluss hatte“, erinnert sie sich. Der Traum verwandelte sich in Frust und Isolation.

Wie die Tragflächenprofile eines Rennwagens

Sie begann, Kalorien zu zählen, exzessiv Sport zu treiben – und verlor die Kontrolle, während sie genau diese verzweifelt suchte. „Wenn man an Anorexie leidet und sich gleichzeitig in die Kunst des Backens verliebt, ist das fast schon ein Widerspruch“, sagt ihr Vater. Doch genau darin lag die Rettung.

Zurück in Australien, krank und ausgezehrt, begann Reid in einer Bäckerei zu arbeiten. Zunächst war es ein quälendes Spiel mit der Versuchung, eine Art Selbstprüfung. Doch dann entdeckte sie in einem Bildband über Pariser Pâtisserien die glänzenden Schichten eines Pain au Chocolat. Sie erinnerten sie an die Tragflächenprofile eines Rennwagens. Noch am selben Tag buchte sie ein Flugticket nach Paris. Vier Wochen verbrachte sie in der Backstube von „Du Pain et des Idées“. Dies sei „die vielleicht erfüllteste Zeit gewesen“, die sie je in einem Job hatte, sagt sie. „Es war eine Erinnerung an mein Leben vor der Essstörung, als ich morgens voller Vorfreude aus dem Bett sprang.“

Auf dem Weg zum perfekten Croissant

Wieder in Melbourne, beschloss sie, das perfekte Croissant zu erschaffen. Sie mietete ein kleines Atelier, importierte französische Butter, testete über Monate hinweg Rezepte und dokumentierte jeden Schritt mit der Präzision einer Ingenieurin. „Alles, was man im Ingenieurwesen braucht, gilt auch für die Pâtisserie – Präzision und Kontrolle“, sagt ihr Vater. 2012 eröffnete sie Lune Croissanterie zunächst als kleine Backstube. Bald standen die Menschen im Morgengrauen Schlange, Hunderte Meter lang, selbst im Winter. 2016 kürte die New York Times Lunes Croissants zu den besten weltweit – ein Ritterschlag, der eine Welle auslöste, die bis heute anhält.

Für Reid bedeutet der Erfolg auch eine neue Definition von Glück. Kontrolle musste sie lernen abzugeben – eine Lektion, die nicht nur ihr Unternehmen wachsen ließ, sondern auch ihre Genesung ermöglichte. „Wir glauben, wir könnten alles kontrollieren, aber das können wir nicht“, sagt sie. „Mit einer Essstörung zu leben, ist ein lebenslanger Kampf. Aber ich bin mir bewusst, nicht in alte Muster zurückzufallen, die mir nur ein trügerisches Gefühl von Sicherheit geben.“

Heute erzählt Reid ihre Geschichte, um anderen Mut zu machen. Denn hinter den goldenen Schichten ihrer Croissants verbirgt sich eine Botschaft: dass ein erfülltes Leben nach einer Krankheit möglich ist. Und vielleicht liegt der wahre Erfolg, wie sie sagt, nicht in Preisen oder Verkaufszahlen, sondern darin, „das Bewusstsein zu haben, dass man gerade einen großartigen Moment lebt – und ihn zu schätzen“.