Sonntag21. Dezember 2025

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In Luxemburgs KinosWer in „Alpha“ zu Stein wird und was „Sirât“ mit der Rave-Kultur zu tun hat

In Luxemburgs Kinos / Wer in „Alpha“ zu Stein wird und was „Sirât“ mit der Rave-Kultur zu tun hat
„Sirât“ ist einer der neuen Filme in Luxemburgs Kinos: Sergi López (r.) sucht dort in der Wüste nach seiner verschollenen Tochter Quelle: imdb.com

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Zwei Familiendramen, nur anders erzählt: Sorgt sich in „Alpha“ eine Ärztin und Mutter um die Gesundheit ihrer Tochter, sucht in „Sirât“ ein Vater mitten in der Wüste nach seiner Tochter. Was beide Filme sehenswert macht.

„Alpha“

Julia Ducournau kehrt mit „Alpha“ zurück – und erzählt ein Familiendrama im Schatten einer tödlichen Epidemie. Zwischen Körpermetaphern, melodramatischer Wucht und poetischen Bildern entfaltet sich ein Film, der spaltet, aber nicht loslässt.

Das Mädchen Alpha steht im Mittelpunkt des gleichnamigen Films
Das Mädchen Alpha steht im Mittelpunkt des gleichnamigen Films Quelle: imdb.com

Mit „Alpha“ schlägt Julia Ducournau ein neues Kapitel auf. Nach dem Kannibalen-Coming-of-Age „Raw“ und dem fiebrigen Maschinen-Märchen „Titane“ richtet sie ihren Blick in eine nicht weiter definierte Vergangenheit an einen nicht weiter definierten Ort. Es ist die Geschichte einer Epidemie, die Menschen in Stein verwandelt – und zugleich das Porträt einer Familie, die unter dem Druck von Krankheit, Geheimnissen und Verlust zerbricht.

HIV und Stillstand

Im Zentrum steht die 13-jährige Alpha (Mélissa Boros), ein Mädchen an der Schwelle zur Jugend, hin- und hergerissen zwischen Trotz und Verletzlichkeit. Ihre Mutter (Golshifteh Farahani) arbeitet als Ärztin in einer Klinik für Viruskranke, eine Frau, die Schutz und Kontrolle kaum noch voneinander trennen kann. Als Alpha mit einem Tattoo nach Hause kommt, deutet die Mutter darin sofort ein Symptom der neuen Krankheit. Der Verdacht vergiftet das Verhältnis zwischen ihnen, während mit dem plötzlich auftauchenden Onkel Amin (Tahar Rahim) eine zweite Bedrohung ins Haus drängt: HIV-positiv, heroinabhängig, eine lebendige Erinnerung an die AIDS-Krise.

Ducournau erzählt nicht dokumentarisch, sondern in Bildern, die Realität und Allegorie verschränken. Die Versteinerung der Körper ist kein Schockeffekt, sondern eine Metapher für Stillstand, Isolation und den Verlust von Wärme. Die Kamera findet Schönheit in der Kälte, zeigt die Oberfläche des Marmors, als würde er zugleich verführen und abstoßen. Diese poetische Bildsprache macht „Alpha“ zu einem Film, der ebenso vom Unausgesprochenen lebt wie von den familiären Konflikten im Vordergrund.

Stilistisch bleibt Ducournau ihrem Fokus auf den Körper treu, doch sie dämpft den Exzess. Blut und Verstörung weichen einer langsameren, fast traumhaften Erzählweise. Musik und Sounddesign verleihen der Handlung eine Dringlichkeit, manchmal auch ein Übermaß, doch in den leisen Momenten entfaltet der Film seine größte Wirkung: Wenn Alpha durch die Straßen streift, wenn die Mutter einsam Wache hält, wenn Amin im Schatten der Krankheit um Würde ringt.

Spielt die besorgte Ärztin und Mutter: Golshifteh Farahani, mit Mélissa Boros in „Alpha“ 
Spielt die besorgte Ärztin und Mutter: Golshifteh Farahani, mit Mélissa Boros in „Alpha“  Quelle: imdb.com/NEON

Horror, nur anders

Trotz der gedämpften Erzählweise bleibt „Alpha“ zutiefst im Body Horror verwurzelt. Allerdings handelt es sich hier nicht um den radikalen, exzessiven Körperterror, den man aus „Raw“ oder „Titane“ kennt. Stattdessen entwickelt Ducournau eine intellektuellere Form des Body Horror, die an David Cronenberg erinnert: weniger Splatter und Schock, mehr Reflexion über den Körper als Schauplatz von Angst, Veränderung und Identitätskrisen. Die Versteinerung ist dabei nicht nur ein Bild des Stillstands, sondern eine unheimliche Transformation, die das Verhältnis von Fleisch, Haut und Materie neu denkt – und so eine philosophische Dimension des Horrors eröffnet. In dieser Lesart wird der Horror weniger zur Attacke auf den Zuschauer, sondern zu einer Einladung, über Verletzlichkeit und Sterblichkeit nachzudenken.

Die Schauspieler tragen diese Ambivalenzen mit spürbarer Intensität. Mélissa Boros verleiht Alpha eine Mischung aus Trotz und Fragilität, Golshifteh Farahani gestaltet die Mutter als Frau, die von Angst getrieben ist, ohne ihre Liebe ganz zu verlieren, und Tahar Rahim bringt dem Onkel eine Verletzlichkeit, die über Klischees hinausgeht. Zusammen ergeben sie ein Trio, das den Film im Innersten verankert.

Doch „Alpha“ ist nicht ohne Brüche. Die Erzählung will vieles zugleich – Coming-of-Age, Familiendrama, Krankheitsallegorie – und verliert sich manchmal in dieser Überfülle, in dem Anspruch, den Schmerz in Bilder zu fassen, Bilder, die zwischen Härte und Schönheit schwanken, zwischen Angst und Nähe, von der Last einer Epidemie und dem Versuch, im Familiären einen Halt zu finden.


„Sirât“

Ein Film wie ein Trip: Oliver Laxes „Sirât“, in Cannes uraufgeführt, entzieht sich der klassischen Dramaturgie und führt stattdessen mitten hinein in ein sinnliches Erlebnis aus Klang, Bild und Bewegung. Was als Suche in der Wüste beginnt, wird zu einer Grenzerfahrung zwischen Rausch, Angst und Erlösung.

Am Anfang steht eine Raveparty in der marokkanischen Wüste. Inmitten einer endlosen Weite werden Lautsprecher aufgebaut, Hände und Arme verrichten geduldig ihr Werk, bald hämmert ein elektronischer Beat, und Körper geraten in Trance. In diesem Umfeld taucht Luis auf, ein älterer Mann, der gemeinsam mit seinem Sohn nach seiner verschwundenen Tochter sucht. Er schließt sich den Ravern an und folgt ihnen auf eine Fahrt durch das Ungewisse. Mehr braucht es nicht – die Figuren, die Konstellation, das Terrain. Alles Weitere wird nicht über Handlung, sondern über Erfahrung erzählt.

Sergi López (l.) ist ein Vater auf der Suche, zusammen mit Bruno Núñez Arjona (M.) und Stefania Gadda (r.)
Sergi López (l.) ist ein Vater auf der Suche, zusammen mit Bruno Núñez Arjona (M.) und Stefania Gadda (r.) Quelle: imdb.com/

Sirât ist der Name der Brücke, die nach islamischem Glauben ins Paradies führt. Schon der Titel deutet an: Hier geht es nicht um das Erreichen eines klaren Ziels, sondern um das Austarieren von Extremen, um die Bewegung auf einem schmalen Grat. Der Film verhandelt Grenzerfahrungen – zwischen Familie und Gemeinschaft, zwischen Rausch und Gewalt, zwischen Hoffnung und Untergang. Dabei treffen zwei Lebensmodelle aufeinander: die zerbrochene klassische Familie auf der einen Seite, eine fluide, anarchische Gemeinschaft der Raver auf der anderen, deren Rituale eher an archaische Stämme erinnern als an moderne Subkultur.

Eine körperliche Erfahrung

Oliver Laxe inszeniert mit langsamer, geduldiger Kamera, die auf Hände, Gesichter, Landschaften verweilt und in langen Einstellungen die Zeit ausdehnt. So entsteht ein Kino der Aufmerksamkeit, das auf Details verweist, die in gewöhnlichen Filmen kaum Platz finden würden. Der dröhnende Bass ist dabei mehr als Begleitung – er wird zum physischen Ereignis. Der Ton setzt sich auf den Körper, macht Kino zu einer körperlichen Erfahrung, die den Verstand zwar nicht ausschaltet, aber ihm andere Wege zum Begreifen anbietet. Die Reise der Figuren ist damit auch eine Reise ins Symbolische: ein Trip, der von ekstatischer Euphorie in Angst kippt, von der Sinnlichkeit des Tanzes in das Dunkel der Bedrohung. Gewalt, Verlust, Nähe und Trance überlagern sich. Laxe verzichtet auf narrative Eindeutigkeit und vertraut ganz auf die suggestive Kraft seiner Bilder und Klänge. Gedreht auf 16 mm, entwickeln sie eine analoge Körnigkeit, die den Sand, den Staub, das Schwere der Landschaft körperlich erfahrbar macht.

Schauspielerin Jade Oukid im Wüsten-Rausch
Schauspielerin Jade Oukid im Wüsten-Rausch Quelle: imdb.com

Vergleiche drängen sich auf – zu William Friedkins „Sorcerer“, Michelangelo Antonionis „Zabriskie Point“. Doch „Sirât“ bleibt eigenständig: ein Kino der Übergänge, der Reibungen, der bewussten Fragmentierung. Es verweigert das beruhigende Gefühl, „verstanden“ zu haben, und öffnet stattdessen Räume für Deutung und Sinnlichkeit. „Sirât“ verlangt Hingabe, Geduld und die Bereitschaft, sich auf eine Erfahrung einzulassen, die mehr mit Musik, Ritual und Trance zu tun hat als mit klassischer Erzählung. Der Film ist kompromisslos, sinnlich, von formaler Wucht – und zugleich zutiefst im Bewusstsein für die Gegenwart verankert.

Aktuelle Themen

Autoritarismus, Fluchtbewegungen, Gewaltstrukturen durchkreuzen den Trip, ohne dass die Bilder ihre poetische Kraft verlieren. Gerade in dieser Spannung zwischen politischer Realität und hypnotischer Abstraktion entfaltet „Sirât“ eine eigene, schwer greifbare Schönheit. Er fordert das Publikum heraus, sich selbst im Rhythmus zu verlieren und dennoch die Bedrohung im Hintergrund nicht zu vergessen. So entsteht ein Kino, das gleichzeitig verführt und verstört, öffnet und einschließt.

Am Ende bleibt das Gefühl einer Reise, die so sehr nach innen wie nach außen führt. Ein Kino, das den schmalen Grat beschreitet, von dem der Titel spricht: zwischen Hölle und Paradies, zwischen Schönheit und Schrecken. „Sirât“ ist ein Film, der nicht erklärt werden will, sondern erlebt – ein Ereignis für die Sinne, ein radikales Bekenntnis zur Kraft des Kinos.