Heiße Phase in CannesWer hat Chancen auf die Goldene Palme?

Heiße Phase in Cannes / Wer hat Chancen auf die Goldene Palme?
Begehrt in Cannes: die Goldene Palme, hier jene aus dem Jahr 1961 Quelle: Poromiami, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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Die Filmfestspiele erreichen ihre Schlussphase, die ersten Palmen-Favoriten werden festgelegt: Im Hauptwettbewerb lässt sich eine klare Tendenz für den weiblichen Blick und die Alterswerke herauslesen. Die Favoriten im Überblick.

Vom Erinnern

Die Filme von Paul Schrader, Francis Ford Coppola und David Cronenberg haben rein oberflächlich fast nichts gemein: „Oh, Canada“ von Paul Schrader ist die Geschichte eines Mannes, Leonard Five (Richard Gere), der an Krebs leidet und auf Medikamente angewiesen ist, die sein Gedächtnis stark beeinträchtigen. Für die Nachwelt will er seine Erinnerungen mündlich vor der Kamera festhalten.

Coppolas neuer Film „Megalopolis“, der an der Croisette überwiegend verrissen wird, beschreibt den Machtkampf in einer zugleich antiken und modernen Großstadt, die von der Utopie träumt. Die Hauptfigur Cesar Catilina (Adam Driver) ist der Architekt, der diese umsetzen soll. Geplagt von Sorgen um sein Ansehen und das überlieferte Bild für die Nachwelt, schält dieser Film die existenziellen Urängste des Menschen heraus. Catilina will sich für die Ewigkeit ein Monument bauen, um erinnert zu werden, um zu bleiben.

David Cronenberg legt mit „The Shrouds“ seinen bisher persönlichsten und unter gewissen Ansätzen autobiographischsten Film vor, der ganz um die Fragen der Trauer um einen geliebten Menschen und um die eigene Sterblichkeit kreist. Darin begleiten wir Karsh (Vincent Cassel), der seiner verstorbenen Frau Becca (Diane Kruger) nachtrauert. Durch ein bizarres und hochmodernes Bestattungsverfahren, das modernste Technologien nutzt, will er dem Körper seiner Frau bei der Verwesung zusehen.

Der Schauspieler Vincent Cassel (links) spielt die Hauptrolle in David Cronenbergs (rechts) „The Shrouds“ 
Der Schauspieler Vincent Cassel (links) spielt die Hauptrolle in David Cronenbergs (rechts) „The Shrouds“  Foto: AFP/Christophe Simon

Es sind jene Alterswerke, die auf bedächtige Weise um die Fragen nach dem Tod, des Nachlasses, der Erinnerung kreisen. Coppola erzählt überaus ausladend und skurril, schachtelt Stilelemente der römischen Antike, des modernen New York und eines Futurismus, der auf Nachhaltigkeit setzt, ineinander. Die Grenzen zwischen Camp und Kitsch, zwischen exzessiver Prägnanz in der Darstellung von Dekadenz und erzählerischem Leerlauf sind in „Megalopolis“ nicht so einfach zu zeichnen. Schraders Film legt die eigene Sorge um die Erinnerungsarbeit nach außen. Er zeigt, mittels unzuverlässiger Erzählprinzipien und verschachtelter Rückblenden, wie die Gedanken zum fotografischen Abbild oder noch der Vietnamkrieg eine Vita prägen, und wie komplex und multiperspektivisch der Blick auf diese sein kann – „Citizen Kane“ (1941) von Orson Welles ist ihm das große Vorbild. Alle diese Filme stammen von den Veteranen einer spezifischen Form des Autorenkinos, die ihre eigene Karriere, ihr Vermächtnis und ihre Vergänglichkeit mit reflektieren.

Der weibliche Blick und der Body Horror

Die Filmemacher der jüngeren Generationen rücken eine weibliche Perspektive ins Zentrum der Erzählung: „Diamant brut“ von Agathe Riedinger, „Birds“ von Andrea Arnold, „Pigen med nålen“ („The Girl with the Needle“) von Magnus van Horn und „The Substance“ von Coralie Fargeat.

„Diamont brut“ und „Birds“ einigt zunächst ihr trist-desillusioniertes Kreisen im Milieu der Prekarität, der sozial Unterprivilegierten, denen keine wirklichen Perspektiven im Leben geboten werden. Riedinger setzt eine entsetzliche Abwärtsspirale frei: Sie schafft eine Influencerin im Süden Frankreichs, die den Körper verkauft, um die Illusion ihrer Followerschaft aufrechtzuerhalten. Die Britin Arnold nutzt hingegen einen realistischen Ansatz, ganz im Stile des sozialrealistischen britischen Kinos, für die Umsetzung des magischen Realismus. Die Einzelgänger unter diesem Filmensemble, die in diversesten Formen um Fragen der Weiblichkeit kreisen, sind Magnus van Horn und Coralie Fargeat.

Van Horns Film zeichnet in harschen und kalten Schwarz-Weiß-Bildern das Dänemark der Nachkriegszeit. ‚Der Große Krieg zur Beendigung aller Kriege’ hat die Welt immer noch fest im Griff: Die junge Karoline (Vic Carmen Sonne) sucht Schutz bei Dagmar (Trine Dyrholm), nachdem sie die soziale Ächtung hat über sich ergehen lassen müssen – ungewollt schwanger und verlassen von einem Mann, der die Heirat nicht will, sucht sie Zuflucht bei der Süßwarenverkäuferin Dagmar, die jenen Müttern helfen will, Pflegefamilien für ihre ungewollten Kinder zu finden. Doch sie hat ein dunkles Geheimnis, mit dem Magnus van Horn den Horror einbringt. Angelehnt an die großen Meister des skandinavischen Kinos der Zweiten Moderne – vornehmlich Ingmar Bergman und Carl Theodor Dreyer –, ist van Horns Film vor allem eine große Revision dieser überaus einflussreichen Erneuerungsbewegung des Kinos. Chancen auf die Goldene Palme hat er allein deswegen aber eher nicht.

Anders bei Coralie Fargeat: „The Substance“ heißt ihr neuer Film, den sie mit Demi Moore und Margaret Quailey prominent besetzen konnte. Das ist ein zunächst sehr enigmatischer Titel für einen so durchschlagkräftigen Film, den Fargeat nach den Parametern des modernen Female Body Horrors ausrichtet. Sie stellt sich damit in eine neue Reihe dieses Subgenres, das mit Cronenberg seinen Anfang nahm und mit Filmemacherinnen wie Julia Ducourneau („Raw“ und „Titane“) wieder zu Elementen zurückgeführt wird, die Cronenberg heute nicht mehr so interessieren.

Die französische Regisseurin Coralie Fargeat könnte für „The Substance“ mit der Goldenen Palme ausgezeichnet werden
Die französische Regisseurin Coralie Fargeat könnte für „The Substance“ mit der Goldenen Palme ausgezeichnet werden Foto: AFP/Loïc Venance

Diese erwähnten Ansätze waren schon in Fargeats erstem Rape-Revenge-Thriller „Revenge“ von 2017 enthalten, doch der simple Plot, dem Fargeat damals schon zur formalen Größe verhalf – man erinnert sich noch an die grellen Kontrastfarben und die satte Lichtsetzung, mit der diese Wüstenlandschaft auflebte –, wurde nicht weiter beachtet. Das dürfte sich nun ändern: „The Substance“ erzählt von der Werbeikone Elizabeth Sparkle (Demi Moore), die stark gealtert ist – in der marktwirtschaftlichen Ideologie ein Widerspruch schlechthin. Ihr misogyner Manager (Dennis Quaid), der obendrein noch den anrüchigen Namen Harvey trägt, will sie absetzen. Da kommt es Elizabeth ganz gelegen, dass ein mysteriöses Unternehmen, genannt ‚The Substance’, ihr ein Programm anbietet, das ewige Jugend verspricht.

Die mysteriöse Substanz erlaubt es ihr, sich selbst neu zu gebären und folglich mit diesem jüngeren Alter Ego den Beginn ihrer Karriere noch einmal zu erleben. Ein faustischer Pakt, dessen Haken darin besteht, dass beide Körper in Symbiose miteinander koexistieren müssen. Gleich zu Beginn eröffnet der Film mit dem „top shot“ eines sich teilenden Spiegeleis und führt das Motiv des Doppelgängers ein, das Fargeats Film auf prominente Weise bestimmt und in besonderem Maße an Cronenbergs „Dead Ringers“ (1988) erinnert – ein Motiv, das dieser übrigens auch in „The Shrouds“ wieder aufgreift.

Cronenberg scheint sich aber angesichts der Radikalität, mit der sowohl Ducourneau wie Fargeat nun an sein Frühwerk anknüpfen, in ganzer Demut zurückzunehmen. „The Shrouds“ ist ein (über-) überlegter Film über das Wesen und Verwesen des Körpers nach dem Tod – ein Body Horror, der mit Dialogen arbeitet, statt mit den körperlichen Reaktionen seines Publikums. Das ist der wesentliche Unterschied zu Fargeat.

In „The Substance“ wird ein ganzes Regelset erläutert, das doch eigentlich nur Metapher ist für die Unnatürlichkeit des Prozesses. Fargeat formt diesen Hybris-Gedanken, der sich gegen den natürlichen Ablauf des Menschseins stellt, zu einer grotesken Parabel auf die äußerste Künstlichkeit der Welt der Werbekörper, in der obendrein David Lynch und Stanley Kubrick gehuldigt wird. Diese Oberflächlichkeit in einer Welt, in der der Körper alles ist, stellt der Film visuell deutlich dar: starke Kontrastfarben aus grellem Blau, Rot und Gelb, dann die kitschigen Pastelltöne. Das ist Fargeats Kunst – sie macht die Form zum Inhalt und den Inhalt zur Form. Einzig der Umstand, dass mit Ducourneaus „Titane“ drei Jahre zuvor die Goldene Palme für einen aus mehreren Blickwinkeln sehr ähnlich gelagerten Film verliehen wurde, könnte Fargeats Siegeszug im Wege stehen.

Der Dissident und der Aufsteiger

„Limonov: The Ballad“ von Kirill Serebrennikov und „The Apprentice“ von Ali Abbasi sind rein äußerlich zwei Biopics über völlig unterschiedliche politische Karrieren: „Limonov“ widmet sich dem russischen Politiker und Schriftsteller Eduard Limonov, „The Apprentice“ dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump.

Serebrennikov nutzt das Genre des politischen Thrillers für eine Momentaufnahme: Der russische Filmemacher ermöglicht eine Zeitreise, die einen in ihren Bann zieht. Mit dem britischen Schauspieler Ben Whishaw hat Serebrennikow seinen Film hochkarätig besetzt; seine Zerbrechlichkeit, seine unkonventionelle Art, seine spürbare Lust an der Provokation vereint Whishaw prägnant. Zu sehr unterbelichtet bleibt indes die Zeit nach dem Mauerfall und das brisante Verhältnis zu dem Präsidenten Wladimir Putin.

Gewinnt der iranische Regisseur Ali Abbasi mit seinem Biopic über Donald Trump („The Apprentice“) in Cannes?
Gewinnt der iranische Regisseur Ali Abbasi mit seinem Biopic über Donald Trump („The Apprentice“) in Cannes? Foto: AFP/Sameer Al-Doumy

Ist Limonov der Paria ohne Zugehörigkeitsgefühl, gefangen in einem permanenten Zwischenraum der zweigeteilten Welt des Kalten Krieges, tritt Ali Abbasis Donald Trump als Aufsteiger ohne Hemmungen in einer Welt des krankhaften Hedonismus auf. Ali Abbasis erster englischsprachiger Film versucht den Aufstieg eines popkulturellen Phänomens, eines menschlichen Monsters im Stile des Mockumentary – eine fiktionale Geschichte in Form eines Dokumentarfilms – aufzuarbeiten, für den die gleichnamige Reality-TV-Serie und das Buch „The Art of the Deal“ die hauptsächlichen Bezugsquellen sind. Es sind jene Quellen, die Trump maßgeblich zum Medienstar machten.

„The Apprentice“ erzählt zunächst von der Beziehung zwischen dem jungen Trump (Sebastian Stan) und seinem Anwalt und Mentor Roy Cohn (Jeremy Strong), von dem Trump das Regelwerk für seine Karriere erhält. Eindrücklich schildert der Film, wie versucht wird, die Komplexität der modernen Welt auf drei Gebrauchsformeln zu bringen: 1) Die Welt ist ein Chaos. Attack. Attack. Attack. 2) Es gibt keine Wahrheit, alles ist biegsam. 3) Gestehe nie eine Niederlage ein. Auffallend sind auch die vielen Bezüge zur Mafia, die der Film spielerisch herstellt. So sitzt man mit dem Mafioso Tony Salerno gemeinsam am Tisch und plaudert.

Nicht nur in dem Hinblick erinnert der Film an die virtuosen Kunstwerke Martin Scorseses, sondern auch in Bezug auf die pathologische Dimension der Gier. „Casino“ und „Wolf of Wallstreet“ kommen einem in den Sinn: Dort wie hier gibt es keine Liebe, nur Geschäftsverträge; es gibt keine größere Form der Kunst, als Geld anzuhäufen, Frauen sind reine Statusobjekte, die auf die derbste und misogynste Weise auf reine Körperlichkeit reduziert werden.

Hollywood

Selbstverständlich blieben auch die große Starpräsenz und der große kommerzielle Blockbuster aus Hollywood in Cannes nicht aus. Nicht nur hat Kevin Costner mit „Horizon – An American Saga“ den ersten Teil seiner vierteiligen Monumentalsaga vorgestellt, auch prägen die Besuche der virtuosen Schauspielerin Meryl Streep und des Regisseurs und Produzenten George Lucas das Festival an der Croisette. Der Schöpfer der „Star Wars“-Saga, der vergangene Woche 80 Jahre alt wurde, erhält in Cannes den Preis für sein Lebenswerk – kaum eine andere Filmreihe hat eine solche popkulturelle Reichweite erlangt.

„Horizon – An American Saga“ von Kevin Costner soll Ende Juni in den Kinos anlaufen. Costner hat es nicht verlernt, die Magie des großen Westerns zu beschwören und erzählt dieses überaus breit angelegte Epos multiperspektivisch: Da gibt es den Apachen Taklishim (Tatanka Means), den Pferdehändler Hayes Ellison (Costner), die resolute Marigold (Abbey Lee), die geflohene und obdachlose Frances Kittgedsen (Sienna Miller) und den besonnen Nordstaatenoffizier Trent Ghephardt (Sam Worthington) – breit ist das Figurenregister und immer mehr Nebenfiguren schichtet Costner in seinen Epos. Leider wirkt keine dieser Figuren ausgereift – sie sind mehr Ausdruck einer sich entwickelnden Nation, in der sowohl das Land als auch die Frau noch mit Gewalt beansprucht werden dürfen. Eine Gewaltballade, in der das darwinistische Recht des Stärkeren gilt. Diese reaktionären Tendenzen scheinen aus heutiger Sicht befremdlich, doch leugnet Costner sie nicht, weil er den Western immer schon ungemein ernst nahm und um ein historisch authentisches Bild zwischen dem Zug gen Westen und dem Sezessionskrieg bemüht ist. Möglicherweise ist gerade so die deutlichere Konturierung der Frauenfigur der Marigold zu verstehen: Es ist Costners Versuch, Vorurteilen entgegenzuwirken.

US-Schauspieler Kevin Costner versucht sein Glück in Cannes mit einem Western
US-Schauspieler Kevin Costner versucht sein Glück in Cannes mit einem Western Foto: AFP/Zoulerah Norddine

So wie „Dances With Wolves“ 1990 als ein Dialog der Kulturen funktionierte, so bildet Costner hier alles gleichrangig ab und versucht jede Perspektivgewichtung zu unterdrücken. Es tauchen die Einheimischen auf, die das Land nicht kampflos aufgeben wollen; die nomandenhaften Pferdetreiber, die nicht so recht wissen, wo sie hingehören; die Nordstaatler, die nicht mehr ausmachen können, welcher dieser beiden Nationen der Vereinigten Staaten sie angehören; die Apachen, die nicht voraussehen können, wie eine friedliche Koexistenz möglich sein kann.

„Horizon – An American Saga“ ist Costners Versuch, den amerikanischen Gründermythos noch komplexer zu erzählen. Filmische Western der Superlative sind per se allerdings nicht mehr steigerbar: Nicht durch die imposanten Landschaftsaufnahmen, nicht durch die opulente Filmmusik. Costners zweiter Versuch nach „Open Range“ (2003) blieb gerade aufgrund dieses Umstandes hinter den Erwartungen zurück. Hier nun sucht er also einen neuen Weg: Einzig in der Figurenvielfalt kann Costner das Genre in seinen Dimensionen noch ausweiten. Es bleibt abzuwarten, wie dieser Vierteiler, der die Gründerzeit über Jahre hinweg in den Blick nehmen will, sich zu einem Ganzen zusammenfügt.

Marc Trappendrehers Top-3-Favoriten für die Goldene Palme

1) The Substance
2) Megalopolis 
3) The Girl with the Needle