Sonntag21. Dezember 2025

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ForumWenn Moral zum Mob wird: Carole Reckinger über die dunkle Seite digitaler Empörung

Forum / Wenn Moral zum Mob wird: Carole Reckinger über die dunkle Seite digitaler Empörung
 Foto: AFP/Denis Charlet

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In letzter Zeit häufen sich Berichte über digitale Selbstjustiz, bei der Menschen aus Misstrauen gegenüber dem Rechtsstaat selbst zur Tat schreiten. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Form der Selbstjustiz sind die sogenannten Pedohunter. Dabei inszenieren sich Gruppen – häufig ältere Jugendliche – als selbsternannte Kinderschützer: Sie geben sich über gefälschte Profile als Kinder aus, locken Zielpersonen zu einem Treffen, stellen sie zur Rede, erniedrigen oder attackieren sie – und veröffentlichen die Konfrontation mitunter online. Was manche vielleicht als mutiges Handeln im Namen des Kinderschutzes deuten, ist bei genauerem Hinsehen eine gefährliche Vermischung von Selbstjustiz und politischer Einflussnahme.

Soziale Netzwerke liefern einen perfekten Nährboden, auf dem sich digitale Selbstjustiz entfalten kann. Empörung wird durch Algorithmen verstärkt verbreitet, komplexe Themen werden oft auf einfache Parolen reduziert und wer Aufmerksamkeit will, muss provozieren. Geht es um so sensible Themen wie sexuellen Missbrauch von Kindern, ist die Empörung verständlich groß – doch genau diese Emotion wird zur gefährlichen Triebkraft, wenn sie gezielt für verdeckte politische Zwecke mit extremistischer Agenda ausgenutzt wird. Gerade junge Menschen sind anfällig für diese Dynamik: Sie wollen etwas bewirken, sich für Gerechtigkeit einsetzen und eine heldenhafte Tat vollbringen. Likes, Follower und Zuspruch aus der Community belohnen ihr Engagement – zumindest auf den ersten Blick. Vielen wird erst im Nachhinein bewusst, dass ihr Handeln nicht nur rechtlich höchst problematisch war, sondern dass sie dabei auch gezielt für extremistische Propaganda instrumentalisiert wurden.

Der Ursprung eines gefährlichen Trends

Die Wurzeln der modernen Pedohunter-Bewegung reichen nach Russland zurück und liegen in rechtsextremen Kreisen. Eine der bekanntesten Figuren ist Maxim Sergejewitsch Martsinkewitsch, besser bekannt als Tesak. Der Neonazi und Gründer der Gruppe „Occupy Pedophilia“ wurde in den 2010er-Jahren bekannt für brutale Aktionen gegen mutmaßliche Sexualstraftäter und gegen Homosexuelle. Zusammen mit seiner Gruppe lockte er Verdächtige zu angeblichen Dates, filmte, wie sie beschimpft, erniedrigt und teilweise körperlich angegriffen wurden, und stellte die Videos ins Internet. Tesak stellte sich als moralischer Kämpfer dar – doch in Wahrheit nutzte er die Aktionen, um Hass zu verbreiten, rechtsextreme Botschaften zu vermitteln und andere einzuschüchtern. Er wurde mehrfach verurteilt, unter anderem wegen rassistischer Gewalt, und starb 2020 unter ungeklärten Umständen in einem russischen Gefängnis. Tesaks Einfluss ist bis heute spürbar – nicht nur in Russland, sondern auch in westlichen Ländern, wo ähnliche Gruppen nach seinem Vorbild handeln. Eine beunruhigende Entwicklung, die zeigt, wie schnell sich digitale Selbstjustiz mit extremen Ideologien verbinden kann.

Rechtsextreme und verschwörungsideologische Netzwerke haben früh erkannt, wie stark das Thema Kinderschutz emotional berührt und wie gut es sich nutzen lässt, um Misstrauen gegenüber dem Staat zu verbreiten. Auch bei uns kam es bereits zu Fällen, in denen sich Jugendliche und junge Erwachsene in sozialen Medien als Jäger mutmaßlicher Sexualstraftäter inszenierten. Solche „Missionen“ sprechen besonders junge Männer an, die sich orientierungslos oder ausgeschlossen fühlen. In der Rolle eines vermeintlichen moralischen Helden erleben sie plötzlich Anerkennung, Bedeutung und eine klare Aufgabe. Studien zeigen, dass online Pedohunter-Gruppen systematisch von extremistischen Akteuren infiltriert werden, die dort radikale Inhalte verbreiten. Gerade weil es um ein echtes und sensibles Thema geht, ist diese Vereinnahmung besonders gefährlich: Sie macht berechtigte Sorgen zu ideologischen Waffen – und gefährdet damit nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch den Schutz derjenigen, um die es eigentlich gehen sollte: die Kinder.

Kinderschutz braucht Regeln – nicht Rache

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist ein ernstes gesellschaftliches Problem. Es braucht volle Aufmerksamkeit, präventive Maßnahmen, spezialisierte Ermittler, gut ausgestattete Polizeieinheiten und eine Justiz, die Täter konsequent verfolgt und Betroffene schützt. Gleichzeitig tragen soziale Plattformen eine zentrale Mitverantwortung. Netzwerke wie TikTok, Instagram oder YouTube erschaffen algorithmisch gesteuerte Realitäten: Wer ein kontroverses Video anklickt oder liked, bekommt rasch weiteres – oft radikaleres – Material angezeigt. Besonders besorgniserregend: Laut einer Studie der NGO Reset dauert es im Schnitt nur 30 Minuten, bis TikTok einem neuen Nutzer Inhalte mit extremistischen oder verschwörungsideologischen Botschaften vorschlägt – ganz ohne aktive Suche.

Diese sogenannten Rabbit Holes ziehen Nutzer unmerklich in emotional aufgeladene, einseitige Welten. Inhalte, die Wut, Angst oder Empörung auslösen, werden bevorzugt verbreitet – weil sie Interaktionen erzeugen. Und genau davon profitieren die Plattformen: mehr Klicks, mehr Aufmerksamkeit, mehr Profit. Für junge Menschen auf der Suche nach Orientierung wirkt das wie ein Sog: Die Welt scheint plötzlich einfach, die Schuldigen sind klar benannt, die Empörung fühlt sich richtig an.

Solche Dynamiken dürfen nicht weiter unreguliert bleiben – es braucht klare politische Vorgaben. Plattformen dürfen nicht länger daran verdienen, wenn digitale Selbstjustiz, Hass, sexualisierte Gewalt oder offene Gewaltverherrlichung massenhaft Reichweite bekommen. YouTube, TikTok, Facebook und Co. müssen verpflichtet werden, entschieden gegen solche Inhalte vorzugehen: mit Meldepflichten, Upload-Filtern, transparenter Moderation und spürbaren Strafen bei Verstößen.

Carole Reckinger ist Politologin und Mitarbeiterin bei respect.lu
Carole Reckinger ist Politologin und Mitarbeiterin bei respect.lu Foto: Editpress/Alain Rischard

Auch der Zugang zu sozialen Medien im Internet gehört auf den Prüfstand. Es braucht ernsthafte Überlegungen, wie Kinder unter 16 Jahren besser geschützt werden können – etwa durch verpflichtende Altersverifikation, strengere Zugangsbeschränkungen oder sogar durch ein Verbot bestimmter Plattformen für Minderjährige. Erste Schritte in diese Richtung werden bereits in Ländern wie Frankreich und Australien diskutiert. Solange dieser Bereich nicht klar reguliert und kontrolliert wird, bleiben Kinder und Jugendliche weitgehend schutzlos den Dynamiken dieser Plattformen ausgeliefert.

Neben strengeren Zugangsbeschränkungen braucht es auch eine Medienbildung, die über rein technische Kompetenzen hinausgeht – denn in ihrer derzeitigen Form reicht sie nicht aus, um junge Menschen wirklich zu schützen. Junge Menschen müssen verstehen, wie algorithmisch verstärkte Realitäten funktionieren, was mit ihren Daten geschieht, wie digitale Radikalisierung abläuft und auf welche Weise sie manipuliert werden können. Doch dafür braucht es mehr als technische Kompetenzen – es braucht politische Bildung, kritisches Denken und eine Auseinandersetzung mit den Dynamiken der digitalen Welt.

Damit junge Menschen im digitalen Raum nicht schutzlos bleiben, braucht es nicht nur bessere Bildung, sondern auch klare politische Regeln – insbesondere für Plattformen, die von Empörung und Polarisierung profitieren. Es reicht nicht, sich hinter dem Argument zu verstecken, dass Regulierung auf nationaler Ebene schwierig sei. Das mag zutreffen – aber es darf kein Vorwand sein, untätig zu bleiben. Allein der politische Wille, klare Standards einzufordern und Verantwortung zu übernehmen, fehlt bislang weitgehend. Wer diese Verantwortung scheut, überlässt vor allem Kinder und Jugendliche einem digitalen Raum ohne Schutz – und öffnet damit Tür und Tor für ideologische Hetze und Radikalisierung.