18. November 2025 - 7.59 Uhr
Lacuna Coil„Wenn ich so denken würde, könnte ich auf keinem Festival mehr spielen“ – Cristina Scabbia im Tour-Interview
Tageblatt: Wenn du auf die letzten zehn Jahre zurückblickst: Was hat sich bei dir musikalisch und persönlich am stärksten verändert?
Cristina Scabbia: Musikalisch habe ich mich enorm entwickelt. Meine Stimme ist sicherer, flexibler, kontrollierter – und das durch Erfahrung. Ich beobachte mich ständig selbst. Wenn ich merke, dass etwas leichter funktioniert, präge ich mir das ein und baue es in Zukunft ein. Persönlich habe ich vor allem Gelassenheit gewonnen. Früher dachte ich direkt vor Shows ständig darüber nach, ob alles perfekt laufen würde. Heute weiß ich, dass ich immer 100 Prozent gebe. Der Druck ist weg. Die ganze Band ist entspannter, und ich glaube, das spürt man: Wir haben heute mehr Spaß auf der Bühne als je zuvor, und der Funke springt dadurch viel stärker zum Publikum über.
Ihr seid eine der wenigen italienischen Metal-Bands mit internationaler Strahlkraft. Hat sich dadurch etwas in der italienischen Musiklandschaft verändert?
Ein Stück weit, ja. Als wir anfingen, gab es kaum Metalbands in Italien, die internationale Aufmerksamkeit bekamen. Jetzt gibt es mehr – aber die Szene ist immer noch klein. „The Voice of Italy“, wo ich 2018 Coach war, hat tatsächlich viel bewegt, weil plötzlich Menschen, die nie Kontakt zu Metal hatten, gemerkt haben, dass diese Musik existiert. Trotzdem: In Italien ist Metal noch nicht in den Charts, nicht im Mainstream. Das Interesse wächst, aber wir sind weit von einem Durchbruch in Italien entfernt.

Wie hast du deine Zeit als Coach bei „The Voice“ erlebt?
Als sehr frei. Es war schön, weil ich keinerlei Ambitionen hatte, eine TV-Karriere zu starten. Ich wollte einfach ich selbst sein. Mein Fokus lag darauf, meinem Team das Gefühl zu geben, dass sie jemand unterstützt, der ehrlich mit ihnen ist. Wir stehen mit vielen immer noch in Kontakt – selbst mit Leuten, die bei anderen Coaches waren. Das zeigt mir, dass etwas Echtes entstanden ist.
Frauen im Metal werden oft stärker beurteilt – und gleichzeitig zu Vorbildern gemacht. Spürst du diese Erwartungen?
Ja, aber eher, weil andere mir sagen, dass sie mich so sehen. Ich selbst definiere mich nicht als Vorbild. Aber ich weiß: Wenn du öffentlich bist, wirst du zu einem – bewusst oder unbewusst. Deshalb versuche ich, etwas Positives zu vermitteln. Vor allem jüngeren Menschen möchte ich sagen: Alles wird besser. Viele fühlen sich überfordert, aber je älter du wirst, desto klarer erkennst du, wie viel du schaffen kannst.
Frauen werden im Metal oft über ihr Aussehen bewertet. Erlebst du das auch?
Absolut. Frauen werden für alles kommentiert: Gewicht, Falten, Haare, Kleidung. Bei Männern ist das kaum Thema. Zum Glück habe ich eine Community, die mich für das sieht, was ich tue – nicht dafür, wie viele Kilos ich habe. Aber der Druck existiert, vor allem online. Ich finde, niemand hat das Recht, andere ungefragt zu bewerten. Wenn man nichts Freundliches beitragen kann, sollte man einfach die Klappe halten.
Du hast einmal ein Foto ohne Make-up gepostet und damit große Resonanz ausgelöst. War das ein großer Schritt?
Für mich nicht. Im Alltag trage ich selten Make-up. Ich wollte einfach zeigen: Das bin ich. Ich hatte nicht die Intention, ein Statement zu setzen. Aber es war schön zu sehen, wie positiv die Reaktionen waren. Offenbar brauchen Menschen manchmal diesen Reminder, dass niemand 24 Stunden perfekt aussieht.
Ihr habt kürzlich bei einem Festival mit Till Lindemann (Rammstein, Lindemann) gespielt – einem Künstler, der stark in der Kritik steht und mit schweren Vorwürfen in Verbindung gebracht wird. Wie gehst du mit Situationen um, in denen deine eigenen Werte mit umstrittenen Konstellationen kollidieren könnten?
Die Causa Lindemann
Im Mai 2023 erhob eine Frau nach einem Konzert in Vilnius den Vorwurf, ihr seien unbewusst Drogen in einem Getränk verabreicht und sie sei zu einem Treffen mit Till Lindemann geführt worden. Danach meldeten mehrere Frauen vergleichbare Erfahrungen und berichteten unter anderem von unfreiwilligen, sexuellen Handlungen durch Lindemann. Die Berliner Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen wegen sexueller Delikte und Betäubungsmitteldelikten ein. Im August 2023 wurden die Verfahren eingestellt – mangels hinreichender Beweise und belastbarer Aussagen.
Lindemann thematisiert die Gewalt gegenüber Frauen auch in seiner Kunst und schreibt in seinen Gedichten unter anderem über bewusstlose Frauen, die ihm durch den Einsatz von Rohypnol (Schlafmittel) unterlegen sind.
Für mich ist das kein Widerspruch, weil ich Kunst und Privatperson trenne. Das heißt nicht, dass ich Vorwürfe ignoriere oder bewerte. Es heißt nur, dass ich meine eigene Rolle klar definiere. Wenn Lacuna Coil auf einem Festival spielen, dann, weil wir unsere Musik präsentieren. Wir teilen uns eine Bühne, nicht unser Leben. Würde ich mich für das Privatleben aller anderen Acts verantwortlich machen, könnte ich auf keinem Festival der Welt mehr auftreten. Ich weiß schlicht nicht, was andere in ihrem privaten Umfeld tun – über niemanden.
Ich liebe Rammsteins Musik, und ich fand Tills Show künstlerisch beeindruckend. Aber meine Wertschätzung einer Performance bedeutet nicht, dass ich automatisch andere Bereiche des Lebens eines Künstlers kommentiere oder legitimiere. Was mich leitet, ist mein eigener moralischer Kompass. Ich weiß, dass ich ein guter Mensch bin, respektvoll handle und integer bin. Das ist mein Maßstab. Mehr Verantwortung kann und möchte ich nicht für andere übernehmen.
Du hast eine große Fangemeinde sowohl im Metal als auch im Gaming – beides wird oft als „Boys’ Clubs“ bezeichnet. Fühlen sich diese Communitys für dich ähnlich an, oder sind sie von innen betrachtet völlig unterschiedlich?
Ja, vor allem in den Vorurteilen. Im Gaming begegnet mir dieselbe Haltung wie im Metal: „Frauen können das nicht.“ Unsinn. Gaming ist ein Hobby, kein Leistungsnachweis. Online liest man oft nur die negativen Kommentare, weil die positiven seltener sichtbar werden. Aber am Ende ist es einfach egal – ich spiele so, wie ich spiele, und niemand hat das Recht, mir das abzusprechen.
Hat Gaming euer neues Album „Sleepless Empire“ beeinflusst?
Definitiv. Soundtracks inspirieren uns sehr stark. Einige unserer Lyrics enthalten Anspielungen auf Games. Wir hatten schon früher eine EP, die den Namen des Spiels „Half-Life“ trug, wir waren in Game-Soundtracks vertreten und ich bin PlayStation-Sprecherin. Diese Welt ist Teil unseres kreativen Kosmos.
Was inspiriert dich im Moment – auf Tour und im Alltag?
Auf Tour ist es tatsächlich Schlaf. (lacht) Aber generell inspiriert uns alles: Filme, Gespräche, Musik, Begegnungen. Vieles nimmt man erst unbewusst auf, und es taucht erst wieder auf, wenn wir anfangen zu schreiben. Inspiration ist manchmal ein langsamer Prozess – aber sie ist immer da.
De Maart

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